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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

7. 12. 2009 - 20:09

Decemberlist, sieben

"The Grandfather Paradox" von Dixon, Âme und Henrik Schwarz: Minimal My Ass

Das ist die Decemberlist
24 Stücke Musik, täglich eines, den ganzen Dezember über, vorgestellt von FM4 MusikjournalistInnen und Webhosts. CDs, die während des Jahres die FM4 Musikredaktion passiert haben und die für uns von Bedeutung waren. Zum Schenken und Beschenktwerden. Von Indie Pop bis Rare Groove, von dänischem Metal bis österreichischem Songwriter Pop.

fm4.orf.at/decemberlist

Whatever happened, happened: Das Großvater-Paradoxon ist ein das erste Mal in den 1940ern simpel, einleuchtend und exakt beschriebenes - und auch das heute noch am häufigsten verwendete - Beispiel zur Verdeutlichung der Probleme, die das Zeitreisen mit sich bringen kann: Ein Mann reist zurück in die Vergangenheit, tötet den eigenen Großvater vor der Zeugung des eigenen Vaters und löscht so quasi auch die eigene Existenz aus. Was wiederum die ursprüngliche Zeitreise und somit die Möglichkeit zur Tötung des Großvaters ungeschehen macht etc. blabla. Ein Denkmodell, das seither in tausend Filmen und Büchern die eine oder andere Rolle gespielt hat - kein schönes Gefühl, wenn einem die eigene Hand vor den Augen durchsichtig wird. Ask Marty, ask Faraday.

Henrik Schwarz

Henrik Schwarz

Henrik Schwarz

Bei der vorliegenden CD handelt es sich um einen von den hauptsächlich von, wer ahnt es, Berlin aus agierenden Produzenten und DJs Henrik Schwarz, Dixon und Âme zusammengstellten Mix, der sich der Huldigung alter Helden widmet. Der Titel "The Grandfather Paradox" will hier also

Dixon

Dixon

Dixon

so viel bedeuten wie: Ohne die Musik, ohne die Musiker, die wir hier zusammengetragen und in- und aneinandergeschnitten haben, würde es uns vier, als Musikmenschen, so allesamt nicht geben. Eine ehrerbietende Verbeugung vor den persönlichen künstlerischen Vorfahren, in diesem Fall vor "50 Years of Minimal Music", so steht es im Untertitel zu "The Grandfather Paradox" geschrieben. Und "Minimal", das meint hier soviel mehr und anderes als dröges, berlin-zentristisches minimalistisches Geklickere für den Dancefloor und auch "DJ-Mix" meint hier mehr als "ahso, ja, eh, DJ-Mix".

Wir wissen es: Es gibt das Internet und in ihm jeden Tag vierhundertachtundreißig DJ-Mixes zur freien Entnahme, und gar nicht wenige davon können sehr gut sein. Oft hat man es hier aber mit nicht viel mehr als etwas zu grellen, auf Hyperaktualität abzielenden Spiegelungen eines gerade als heiß empfundenen "Zeitgeists" zu tun, bloßen Aneinanderreihungen von HITS aus dem Heute, abgefeuert im Minuten-Takt, geil Party, morgen werden wir sie vergessen haben. Schön und gut, weil heute abend feiern wir!, selten aber gelingt es Zusammenstellungen, in sich etwas Eigenes, Neues zu werden, sich als Identität zu etablieren, die über eine Aneinanderreihung von freshen Tracks hinausgeht.

Ame

Ame

Âme

Zu großen Teilen ist es Henrik Schwarz, Dixon und dem ursprünglich aus Karlsruhe stammenden Duo Âme zu verdanken, ihrem Label Innervisons, ihren vielfingrigen Aktivitäten, ihren Remixes, ihren Partyreihen, ihren Produktionen, ihren DJ-Mixes, dass in den vergangenen vier, fünf Jahren wieder verstärkt House mit Seele und Aura und tatsächlicher Weitsicht in die Aufmerksamkeitssphären des Tanzvolks gespült worden ist, und so für den Dancefloor eine lebensfreudigere Alternative zum gestrengen, nicht selten spezialdogmatischen Minimal Techno anbietet.

Wenn sich diese vier Herren des Begriffes "Minimal Music" annehmen, dann wird er zu einer losen - nicht aber beliebigen - Klammer, in der Wissen um die Musikgeschichte wohnt, zu einer Welt, in der auf kaltem Beton die Orchideen strahlen. "The Grandfather Paradox" ist ein Mix, der nicht auf den Club, auf den Dancefloor abzielt, es ist eine hörbar gemachte Geschichtsschreibung, die behutsam zwischen unterschiedlichen Milieus und Szenen neue Verbindungen deutlich macht. Da wird mit einem Stück von Steve Reich & Pat Metheney der Terminus "Minimal Music" zunächst im Wortsinne verstanden, nur um dann sogleich in den Reduktions-Funk der New Yorker No-Wave-Combo Liquid Liquid zu gelangen.

Grandfather Paradox

BBE

"The Grandfather Paradox" von Henrik Schwarz, Dixon & Âme ist bei bbe/Hoanzl erschienen

Die deutsche Buchhalter-Elektronik von To Rococo Rot wird mit einem sanft zischelnden Stück von Patrick Moraz, einstmals Keyboarder bei Yes und The Moody Blues, zusammengedacht, der höflichste Postpunk ever materialisiert sich in Gestalt des walisischen Trios Young Marble Giants, über Umwege der Soundscapes von Alleskönner John Carpenter oder den pulsierenden Krautrock von Conrad Schnitzler muss man dann schließlich glücklicherweise doch auch bei Techno anlangen, bei Robert Hood, dem Erfinder der "Minimal Nation", um im verbeulten Getröte des legendären komischen Kauzes Moondog ein glorreiches Ende zu finden.

Henrik Schwarz, Âme und Dixon haben durch Auswahl, durch Dramaturgie und durch sorgsames Editieren des Klangmaterials neue Gemeinsamkeiten herausgestellt und ein vielfach verspiegeltes Soundkabinett zusammencollagiert, das an Idee, Musik, Konzept und Liebe so viel mehr transportiert, als so manches reguläre Artist-Album. "The Grandfather Pardox" ist mehr als die Summe seiner einzelnen, naja, ihr wisst schon, den Spruch hab ich von meiner Oma.