Erstellt am: 6. 12. 2009 - 05:19 Uhr
Decemberlist, sechs.
Das ist die Decemberlist
24 Stücke Musik, täglich eines, den ganzen Dezember über, vorgestellt von FM4 MusikjournalistInnen und Webhosts. CDs, die während des Jahres die FM4 Musikredaktion passiert haben und die für uns von Bedeutung waren. Zum Schenken und Beschenktwerden. Von Indie Pop bis Rare Groove, von dänischem Metal bis österreichischem Songwriter Pop.
In Europa etwas im Aufmerksamkeitsschatten von Acts wie Animal Collective, Grizzly Bear oder auch TV On The Radio stehend, wird Bradford James Cox in den USA von der Musikrezension zurecht als eine der zentralen Figuren der neueren, experimentellen Popmusik betrachtet.
4ad/Beggars
Mit unzähligen Veröffentlichungen unter dem Signet seiner Stammband Deerhunter und solo als Atlas Sound driftet der schlaksige Musikus durch so ziemlich alle spinnerten Musikkammern, die in diesem Jahrzehnt dem House Of Pop aufgetürmt wurden. Psychedelic und experimentierfreudiger Naturalismus, extrahiert aus den digitalen Lustmaschinen der zeitgenössischen Musikproduktion, Lagerfeuer Folk und Zottel Rock, der die Utopie gegen die Introspektion ausgetauscht hat, eine Selbstwahrnehmung als Künstler, die einer gleichermaßen von Postpunk und Krautrock inspirierten Idee folgend, sich ganz dem Umbau der Materie verpflichtet fühlt - aber (im Gegensatz zu den erwähnten Genres/Konzepten) nicht mehr der Veränderung der ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Christian Lehner / FM4
Was die Pop-Avantgarde dieses Jahrzehnts trotz all der ästhetischen Referenzen und Anleihen von ihren Vorgängern unterscheidet, ist wohl die von der Postmoderne vorangetriebene Verlagerung der Utopie ins Private. Ein Indiz dafür ist, dass sich die neu herausgebildeten Szenen immer weniger über ästhetische Kriterien oder ganzheitliche Lebenskonzepte definieren, sondern relativ pragmatisch über die Netzwerke, innerhalb derer ihre Akteure agieren.
Christian Lehner / FM4
"The singer songwriter as Hip Hop MC who says ‚I‘ not ‚We‘", wie es Devendra Banhart bereits vor Jahren formulierte, sich sodann seine eigene Sprache und einen egozentrischen Schöpfungsmythos herbeischrieb, mit peers wie Coco Rosie, Animal Collective, Antony And The Johnsons und Joanna Newsom eine anfänglich tatsächlich als „Family“ bezeichnete Gemeinschaft stiftete, die bald unter dem Namen Weird America oder Freak Folk bekannt werden und sich nachhaltig auf das musikalischen Schaffen dieser Musikdekade auswirken sollte. Doch niemand der Beteiligten formulierte je so etwas wie eine kollektive Zielvorstellung, ein Manifest. Was diese abenteuerlustigen und experimentierfreudigen MusikerInnen einte, war die Unlust, sich den künstlerischen Regeln einer auseinanderfallenden Tonträgerindustrie unterzuordnen. Und denoch wird ein Devendra Banhart vor allem im deutschsprachigen Raum noch immer als Hippie missverstanden.
Christian Lehner / FM4
Apropos: Die Begriffe Freak und Folk bekommen im Zusammenhang mit Bradford Cox eine viel lebensimmanentere Bedeutung, eine, die genetisch bedingt ist. Der 1982 in Athens/Georgia geborene Künstler leidet am sogenannten Marfan Syndrom, einer Krankheit, die sich destabilisierend auf die Konsistenz des Bindegewebes auswirkt. Cox bezeichnet sich aufgrund seiner auffälligen körperlichen Erscheinung auch gelegentlich als Freak. Der körperlichen Deformation folgte die seelische. Langwierige Spitalsaufenthalte, Missbrauch und mutwillige Isolation von Seiten der Eltern und in der Schule stellten bereits im Kindesalter die Weichen für ein Leben als Außenseiter. Bradford lernte die eskapistische Wirkung verbotener Substanzen schätzen und begann schon früh, sich intensiv mit einem Tape Recorder des Marke Atlas Sound zu beschäftigen...
Christian Lehner / FM4
Während Cox bei Deerhunter bewusst nur als "Viertelkomponist" auftritt, benutzte er Atlas Sound zunächst als Vehikel der hemmungslosen Vergangenheitsbewältigung. Die jahrelange gesellschaftliche Isolationshaft wurde zwar auf musikalischer Ebene stets mit reichlich rosaroter Watte aus dem Psychedelic-Laden ausstaffiert. Doch die eher als Ideen-Zyklus funktionierenden EPs, großzügig im Netz verstreuten Einzelstücke und das Albumdebüt "Let The Blind Lead Those Who Can See But Not Feel" widmeten sich thematisch dem ich, das aufgrund der jahrelangen Ächtung in Deckung gegangen war. Bis heute in der verwischten Grundtonalität seiner Musik Schutz suchend, leuchtete Cox das gesamte Spektrum avancierter Popmusik aus: da grummelten die Subbässe des Dubstep, wurden Akkorde zerlegt und neu gesichtet und verwackelte Maschinenbeats gegen Rockgitarren, Folk und Ambient in Click & Cuts Manier aufgefahren.
Christian Lehner / FM4
Mit dem im Oktober unter heftigem Beifall erschienen Nachfolgewerk "Logos" wurden diese Techniken verfeinert und um die allzu modischen Sounds entschlackt. Und siehe da: das Album kann mit einer Reihe hervorragender Songs aufwarten, die diese Bezeichnung auch verdienen. Cox rückt zwar am Cover erneut seinen deformierten Körper ins Zentrum, trotzdem ist ihm mit dem Zweitlingswerk ein großer Schritt weg von der Vergangenheitsfixierung gelungen. Mit Laetitia Sadier von Stereolab und dem wunderbaren Noah Lennox von Animal Collective konnten zwei Geistesverwandte für Kollaborationen gewonnen werden, die mit den Songs "Walkabout" und "Quick Canal" auch gleich zur persönlichen Höchstform aufliefen. Vor allem Walkabout ist eine Ton gewordene Lebensbejahung, die mit ihrem verzerrten Sixties-Beat und The Dovers-Sample gar an die Endorphin-Schleudern der Avalanches erinnert.
Christian Lehner / FM4
Weitere Höhepunkte: das traumwandelnde "An Orchid" und der astreine Gitarren-Popsong "Criminals". Wie so viele Experimental-Acts hat Cox gegen Ende dieser Dekade zum klassischen Popsong gefunden. Natürlich schlurft und schlapft er auch weiterhin Klänge zerdehnend durch seinen persönlichen Albtraum und surft immer noch pillenbunt auf der Chillwave. Doch selbst in zäh mäandernden Experimentalstücken wie "Attic Lights" bekundet er - wenn auch noch etwas zaghaft - "I am no Punk". In "Sheila" ringt er sich aber endgültig zu einem Antrag an das Leben durch: "You´ll be my wife, you share my life!". Das ist wahrhaftig schöne Musik und Seelenwärmer für kalte Stunden.
Christian Lehner / FM4
Im Rahmen des diesjährigen CMJ Music Marathon gab Bradford Cox dann den klassischen Performer, der in seinem abgetragenen Vintage-Anzug auf der Bühne tatsächlich wie eine Requisite der Grand Ole Opry wirkte. Kein Kabelrauschen, keine digitalen Wattebausche, kein Gerätebunker bot Halt, bloß eine dezent im Hintergrund agierende Backingband. Daraus wurde das berührendste Konzert des gesamten Festivals. Da stand ein ganz Großer des zeitgenössischen Singer-Songwritertums auf den Brettern der Music Hall Of Williamsburg, der mit nichts außer seiner nackten Musik zu überzeugen wusste.