Erstellt am: 5. 12. 2009 - 23:40 Uhr
Wos is de Maut?
Irgendwann 1986 oder '87 muss es gewesen sein. Die Schule ließ uns wissen, dass das Bezirksmuseum Margareten uns eingeladen hatte, Bilder zu einer Ausstellung beizutragen, die unser Leben als Jugendliche darstellen soll. Ich war in meinem Teenagernarzissmus natürlich sofort Feuer und Flamme für die Sache, gedämpft höchstens durch die Zusatzinformation, dass wir nicht malen, sondern nur eine Collage herstellen durften. In Schwarzweiß.
Bei der Anfertigung dieser Collage sollte ich mich versehentlich mit vollem Gewicht auf die Spitze meiner Schere knien, die ich in der auf den Boden gestützten Hand hielt, und deshalb ein paar Tage mit einer Beinschiene im Spitalsbett verbringen, aber das war wieder eine andere Geschichte.
Die Ausstellung hieß dann jedenfalls „Von der Großmutter zum Enkel“ und war ein grober Unfug. Poster und Katalog zeigten kurioserweise das Foto einer alten Frau aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, wo die tatsächliche Großmutter wenn überhaupt gerade erst geboren gewesen wäre, und daneben einen jungen feschen Kerl in Bundfaltenhosen, Holzfällerhemd und Falco-Frisur. Sehr uncool, wie wir fanden.
Zur Darstellung von Großmutters Jugend hatte das Museum seinen Bestand an Gasmasken, Essensmarken und anderem Zeug aus dem Kriegsalltag in ein paar Vitrinen gesteckt. Unsere Collagen hatte man in einem Raum dahinter lustlos an die Wand geklatscht.
Was für einen Respekt unsere Arbeiten verdienten, zeigten die AusstellungsmacherInnen, in dem sie zu deren Befestigung dicke Schrauben direkt durch die Bilder getrieben hatten. Zurückbekommen haben wir sie danach übrigens auch nicht.
Im dritten Raum saß der für die Ausstellung gewonnene etablierte Künstler Alfred Hrdlicka, umgeben von seinen für den Anlass ausgeliehenen Werken (ein paar Zeichnungen, die nichts Erkennbares mit dem Thema zu tun hatten) an einem schweren Holztisch hinter einer Batterie von Schnapsflaschen verschiedener Höhe und Breite.

ORF
Hrdlicka sollte, so hatte man uns das versprochen, mit uns über seine Arbeit und das Künstlerdasein reden. Er zeigte sich wenig gesprächig und hielt sich lieber an den Schnaps.
In meinen Teenageraugen war dieser Mann, über dessen Skulpturen und Bilder ich als Kind, das von seinen Eltern allwochenendlich von einem Museum zum nächsten gezerrt wurde, oft genug gestolpert war, ab diesem Tag nicht mehr ganz so der Sympathieträger.
Aber ich hatte immerhin etwas verstanden. Vom Alltag eines gemachten Künstlers, der offenbar dem Auslangen zuliebe lustlos Aufträge dieser Art erfüllen musste, der absolut keine Lust auf Missionieren hatte und sich für ein popeliges Bezirksmuseum (sorry, Margareten, die gerade beendete Willi Forst-Ausstellung hat sicherlich gerockt) sicher keine Schere ins Knie gestoßen hätte.
Eine Entromantisierung und Desillusionierung also, die auch was wert war.
1995:
Zivildienst, ich hinten als Sani, der Fahrer des Tages nicht die hellste aller Birnen. Der Datenfunk spuckt unseren Auftrag aus. „Na bitte, ned“, raunzt mein Fahrer, „A Fuhr im Ersten, do kenn i mi übahaupd ned aus.“ Außerhalb des Gürtels war er ja enorm firm, kannte den Stadtplan in- und auswendig, aber in den Bezirken ohne Zehnerstellen hatte er seine Probleme. Dafür waren die „gspritzten“ Zivis zuständig: „Sog, konnst du mia onsogn, wia i do hinkumm?“
Ich konnte. Mein Fahrer, dem ich sowieso unheimlich war, weil ich aus der Sichtung einer einzigen Hausnummer logisch schließen konnte, in welche Richtung die Nummern ansteigen bzw. abfallen würden („Oida, des is jetzt oba wieda a Zufoi gwesen, oda? Wie mochst du des?“) zeigte sich beeindruckt, aus einem anderen Grund aber immer noch skeptisch:
„Heast bitte, wos isn des fia a Noman von den Patient'n? H-R-D-L-C-K...“
Ein berühmter Bildhauer und Maler, erklärte ich ihm, und erntete dafür einen gleichzeitig verächtlichen und desinteressierten Blick.
Wir schlängelten uns durch die Stadt in die Dorotheergasse, vorbei am Albertinaplatz, wo Hrdlicka wenige Jahre zuvor sein umstrittenes „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ errichtet hatte. Umstritten auch bei mir selber, weil ich zwar entschieden für dieses Mahnmal war, aber mit der eigentümlich niedlichen, karikierten Figur des Straßenwaschenden Juden nichts anfangen konnte, auf deren Rücken sich ignorante TouristInnen zu setzten pflegten, ehe Hrdlicka ihn zur Abschreckung mit Stacheldraht bedecken ließ.
Wir fanden das richtige Haus und liefen geschätzte vier Stockwerke hinauf. Hrdlicka öffnete die Tür in die größte, prächtigste Wohnung, die ich je gesehen hatte, voll mit Bildern und Gegenständen, von denen ich wünschte, ich hätte sie im Gedächtnis behalten. Was mir stattdessen in Erinnerung geblieben ist, ist jene Stimmung, die schwer in den großzügigen Räumen lag, eine zwischen den mächtigen Türrahmen gefangene, gespannte Stille.
Unsere Patientin war Hrdlickas offenbar schwerkranke Frau, wir setzten sie auf unseren Tragesessel. Während des Abstiegs fluchte mein Fahrer über das Gewicht, und wie es denn sein könne, dass es in so einem Haus keinen Lift gebe.
Auf dem Weg zum AKH saß ich dann allein hinten im Wagen mit Herrn und Frau Hrdlicka. Ich sah, wie ihm, dem angriffslustigen Künstler mit dem Bürstenhaarschnitt, dem schroffen Schnauzer und den soliden Wülsten über den verkniffenen Augen, dicke Tränen über die Wangen liefen.
Wir lieferten die beiden im Spital ab, und Hrdlicka gab mir wortlos, wie es sich in Wien gehört, das Trinkgeld in die Hand.
„Und, wos is de Maut?“, fragte mein Fahrer im Lift nach unten.
Ich holte den zerknüllten Geldschein aus der Hosentasche. Der Fahrer machte große Augen.
„Fünfhundert!? Fünfhundert Schilling?“
„Fünfhundert.“
„Ned schlechd, der Oide. Wos sogst is dea? A Büdhaua? Ned schlechd.“
PS: Alfred Hrdlicka überlebte damals seine Frau und fand eine neue Liebe. Meine hier wiedergegebenen zufälligen Begegnungen mit ihm sagen nichts über seine Kunst aus, der mit einer Schnellschusswürdigung hier ohnehin kein sinnvoller Tribut geleistet wäre, sondern nur darüber, wie man in Wien jenseits der Nachrufe und der offiziellen Händeschüttlerei als "einer der herausragendsten Künstler Österreichs" (Zitat Bürgermeister Häupl) wahrgenommen wird.
Ihn, den selbsternannten Proletarier und Verweigerer des elitären Avantgarde-Ethos, hätte das vielleicht interessiert.