Erstellt am: 5. 12. 2009 - 23:51 Uhr
Spielplatz Kotti
Die Möglichkeiten, eine Stadt auf vielfältige Weise zu erleben, sind geringer, als man glaubt. Das meiste ist vorgegeben: Straßen, Restaurants, Cafés, Geschäfte, Theater, Clubs, Parks unterliegen gezielten Funktionen und Verhaltensregeln. Öffentliche Räume ohne explizite Zuweisungen über Sinn, Zweck und Nutzung werden im Zuge von Privatisierung und Gentrifizierung tendenziell weniger.
"Fast wie in einem Videospiel", hat Games-Denker Steven Poole kürzlich in einer Kolumne erörtert. Ein interessanter Gedanke, denn die physische Welt nähert sich tatsächlich immer mehr so mancher virtuellen Mogelpackung an. Während dort die seit einigen Jahren viel gepriesene "open world"-Erfahrung oft nur hübsch anzusehen ist, die die Spielerin aber andauernd an unsichtbare Wände läufen lässt, ist auch ein andersartiges Erleben des "wirklichen" urbanen Raums mitunter enttäuschend.
Diese Restriktionen sind allerdings nicht nur von Staat, Regierungen und Senaten vorgegeben, sondern auch in unseren eigenen Köpfen verhaftet. Wer sagt denn, dass alternative Wahrnehmungen nicht überall in der Stadt umsetzbar sind, wenn man nur kreativ genug ist und sich eigene Eroberungspläne ausdenkt? - Genau hier setzt der Street Games-Tag am Kottbusser Tor in Berlin Kreuzberg an. Dabei wird für rund sieben Stunden ein Teil des öffentlichen Raums ein riesiger Spielplatz - doch bis auf die Mitspielenden nimmt kaum jemand davon Notiz.

berlin.invisibleplayground.com
Eine neugierige, experimentierfreudige Gruppe von rund 20 Menschen trifft sich um 10 Uhr vormittags im dauerimprovisierten Veranstaltungslokal "West Germany", um gemeinsam den Ablauf der Spiele zu besprechen. Fünf davon hat Hauptorganisator Sebastian Quack vorbereitet. Einige sind von renommierten Medienkünstlern und Spieleforschern designt und innerhalb der letzten drei Jahre bereits in anderen Städten ausgetestet worden.
Auf die Position kommt es an
Alles beginnt mit einer gemeinsamen Runde "Ran Some, Ransom": Wir bekommen mit dicken, bunten Umrisslinien bedruckte, durchsichtige Folien ausgehändigt und formieren uns in Zweiterteams. Die Folien stellen drei ganz bestimmte Perspektiven des "Kotti" dar. Hat man den korrekten Blickwinkel gefunden und die Umgebung mit der Folie synchronisiert, geht's an die Feinanpassung. Das ist alles andere als einfach: Das Straßenschild sitzt, und der Schornstein-Umriss ist auch am richtigen Platz. Aber die Litfaßsäule ist noch zu weit rechts! - Erst, wenn alles stimmig ist, taucht im jeweiligen Kreis der richtige Buchstabe oder die richtige Zahl auf.
Die schlaue Idee des Einstiegsspiel verblüfft bereits viele Teilnehmende, und doch wird klar, dass das jeweilige Regelwerk eines Street Games sich einem nicht immer sofort erschließt. Ist es immer nur ein Zeichen, das man finden muss, oder können's auch mehrere sein? Soll ein sinnvolles Wort rauskommen oder nicht? Spielpartner Lutz und ich schaffen alle drei Aufgaben, nach der Einsendung unseres Ergebnisses per SMS kommt allerdings nur ein knappes "Falsch!" vom Spielleiter zurück. Macht aber nichts - jetzt sind wir aufgewärmt und machen weiter mit einer Partie "Human Minigolf".
Sei das Hindernis
Nach kurzer Aufwärmpause lernen wir, dass Sitzbänke, kleine Bäume, ein bisschen Beton und ein Fleckchen Kopfsteinpflaster die idealen Zutaten für Bahnengolf sind. Drei weiße Plastikbecher stecken in der Erde und zwei Gruppen machen sich bereit zum konzentrierten Putten. Zuerst stellt die gegnerische Mannschaft sich selbst als menschliche Hindernisse in den Weg. Danach baut sich das aktive Team ihre eigenen Banden und golft los.

Lutz Bonneberg
Das bei der Vorbesprechung mit dem Keyword "albern" versehene Gegolfe ist unterhaltsam und zugänglich. Dadurch vergisst man fast das experimentelle Wesen der meisten Street Games - wäre da nicht der starke Kontrast zu unserer folgenden Aufgabe.
Kontrolle ist besser
Bei "Zollkontrolle" geht es um geschickte Tarnung, gute Täuschung und die richtige Kommunikation. Zwei Gruppen teilen sich in Schmuggler und Zollbeamte auf. Unter dem Rattern der Hochbahn postieren sich zwielichtige Gestalten mit ihren Rucksäcken und müssen damit rechnen, beim Grenzübergang kontrolliert zu werden. Das Beamtenteam splittet sich in Beobachter (oben, am Fenster) und Wache (unten, an der Grenze) und verständigt sich per Funk.

Robert Glashüttner

Robert Glashüttner
So wie beim Folienspiel wirkt auch die erste Runde "Zollkontrolle" wie ein Testlauf, bei dem sich die Regeln erst einspielen müssen. Worauf es wirklich ankommt, entpuppt sich - wie bei jedem guten Spiel - erst, wenn man schon mittendrin steckt. Das Team des Berliner Street Games-Tages möchte seine TeilnehmerInnen aber fordern und so geht es flugs weiter zur nächsten Disziplin. "Stille Post", abseits des harmlosen Namens, geht nun voll aufs Ganze: Wer nicht mitkommt oder einen Befehl nicht rechtzeitig verfolgen kann, schluckt die nach Minze schmeckende Selbsttötungspille.
Wilkommen, Agent Austauschstudent
Lutz und ich haben keine Ahnung, was uns bei "Stille Post" erwartet und vor allem: was man von uns erwartet. Wir bekommen einen kleinen MP3-Player in die Hand gedrückt und treffen uns mit zwei Mitspielenden vor der Haustür. Wichtig ist jetzt, dass wir alle vier synchron auf "Start" drücken. Eine tief gepitchte Stimme begrüßt uns mit unseren Decknamen und teilt uns mit, in welcher Reihenfolge wir das Gebäude zu verlassen haben.
Agent Napoleon verlässt vor mir das Haus, ich warte noch 5, 4, 3, 2, 1 Sekunde und folge ihm. "Lassen Sie sich nichts anmerken" spricht das Hauptquartier in ruhigem, verständlichen Ton durch die Kopfhörer. "Sie gehen jetzt rechts an der Straße entlang und lassen die Altglascontainer links neben sich liegen. In zwei Sekunden sind sie auf der Höhe des Supermarktes an ihrer rechten Seite."
Die offizielle Seite zum Street Games-Tag in Berlin findet sich hier.
In Wien hat vergangenen August übrigens auch ein aufregendes Street Game stattgefunden.
Ich bin aufgeregt und will von der einen Minute auf die andere nichts lieber, als als professioneller Agent alle Anweisungen punktgenau ausführen. Nach dem ersten Auftrag im Supermarkt geht es die Stiegen hinunter in die U-Bahn-Station, in langsamen Schritten. "In 3 Sekunden sind sie an der unteren Plattform angekommen und drehen sich nach links. Sie werden auf ihren Agentenkollegen treffen. Stellen sie sich rechts von ihm hin und übernehmen sie die Keycard." Alles klappt wie am Schnürchen. Ich nehme die Karte, überbringe sie, lasse mir Codewörter ins Ohr flüstern und erfülle den für mich völlig zusammenhangslosen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit - bis plötzlich das MP3 abbricht. Wir ehemaligen Agenten sind verblüfft, so abrupt wieder in die uns bekannte Dimension geworfen zu werden und genießen gleichzeitig die Restspannung aus unserem Abenteuer.

Robert Glashüttner
Deine Stadt mal anders
Nächster Termin:
Die "Journey to the End of the Night" aus Wien wird zu Silvester in Berlin fortgesetzt.
Menschen verknüpfen ungewöhnliche Erlebnisse und wichtige Begebenheiten oft mit den jeweiligen Orten, wo diese sich zugetragen haben. Das Kottbusser Tor wird für mich künftig nicht nur ein ambivalenter Drogen- und Szene-Knotenpunkt von Berlin Kreuzberg sein, sondern auch ein Spielplatz mit vielen Möglichkeiten. Rechnet man dieses Potenzial auf eine ganze Stadt hoch, haben Videospiele im Vergleich zur haptischen Welt wieder einiges aufzuholen.