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Ballesterer FM

Artikel aus dem Magazin zur offensiven Erweiterung des Fußballhorizonts.

4. 12. 2009 - 08:00

"Die sitzen alle auf meinem Tisch"

Sascha Dreier hat in der kürzlich erschienenen Graphic Novel "Der Papierene" Matthias Sindelar und die anderen Protagonisten des österreichischen Fußball-Wunderteams wieder zum Leben erweckt.

Die politischen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit sind für den Berliner mehr als nur Rahmen für seinen gezeichneten Roman. Mit dem ballesterer sprach Dreier über seine Recherchen in Wien, das Spannungsverhältnis zwischen Fakten und Fiktion und den Moment, wenn Strichmännchen zu tanzen beginnen.

Interview: Christian Achatzi & Reinhard Krennhuber

Sascha Dreier Comiczeichner

ballesterer / Ueberreuter

Sascha Dreier

ballesterer: Du lebst und arbeitest in Berlin. Wie kommt ein "Preuße" auf die Idee, eine Graphic Novel über Matthias Sindelar zu machen?
Sascha Dreier: Ich verstehe die Verwunderung, ähnliche Fragen haben sich vermutlich viele bei Steven Spielbergs "Schindlers Liste" gestellt. Es ist wie immer Zufall mit im Spiel. Man wählt ein Thema nicht aus, sondern es kommt zu einem. Wenn ich mir etwas ausgesucht hätte, dann wäre ich ja nicht so verrückt und würde das Wunderteam zeichnen, sondern hätte einen Mauerfall-Comic gemacht und wäre in den Verkaufsranglisten ganz oben. Angefangen hat alles 1999. Ich hatte schon Günter-Netzer-Comics gezeichnet, und mein Mitbewohner, ein absoluter Fußballfreak, hat mir von Matthias Sindelar erzählt. Ich bin auf das "Anschlussspiel" gestoßen und habe ein Storyboard gemacht - mit Hugo Meisl. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich erst danach gemerkt habe, dass er da schon tot war. Meisl war aber meine Lieblingsfigur, und so bin ich immer weiter zurückgegangen in der Historie und konnte nicht mehr davon lassen.

Matthias Sindelar

Sascha Dreier

Wofür stehen für dich das Wunderteam und Matthias Sindelar?
Auf jeden Fall für das, was ich am österreichischen Fußball mag: die Mentalität. Das Österreichische, Tschechische und Ungarische, das sich mit dem Deutschen vermischt. In die Figur Sindelar habe ich mich sehr stark hineingearbeitet und versucht, seine Psyche zu ergründen. Es ist die Darstellung eines naiven, unsicheren und überforderten Menschen, der in einer anderen Welt lebt. Im zweiten Band wird das noch stärker spürbar. Da will ich den Fußball ein bisschen zurücknehmen, um mehr auf seine Person und die politischen Verhältnisse einzugehen.

Was ist das Interessante an dieser Arbeit?
Die wenigsten Deutschen kennen sich mit österreichischer Geschichte aus. Sie wissen vielleicht, dass 1938 der "Anschluss" war. Aber dass Österreich eigentlich seit 1933 eine Diktatur war, ist nur den wenigsten bekannt. Auch ich habe beim Zeichnen sehr viel gelernt. Interessiert hat mich unter anderem das Spannungsfeld zwischen Deutschland und Italien. Die Szene im Buch, in der Dollfuß am Strand mit Mussolini spricht, finde ich super. Wie er ihn nass spritzt, den kleinen Dollfuß, und sagt: "Es kann nur einer Weltmeister werden. Und nun raten Sie mal, wer. Österreich wird es sicher nicht."

Ballesterer Cover Nr. 48

ballesterer

Inhalte des ballesterer Nr. 48 (Dez. 2009 / Jän. 2010) - ab sofort österreichweit im Zeitschriftenhandel:

  • Von Blum bis Zischek: Die Wonder Boys im Überblick
  • Die Kurve brennt: Das Pyroverbot ist beschlossen, die Fans wollen weiter zündeln
  • Groundhopping: Verkleiden in Hongkong, verlieren in London, verstecken in Nazareth
  • Barometer: Das Entscheidungsspiel Frankreich – Irland im Minutentakt
  • Sinnreich: Beim Wettskandal überrascht nur die Aufregung
  • Kump: Rainer Maria Rilkes verschollenes Fußballgedicht

Wie sind die Recherchen zu dem Buch verlaufen?
Ich bin oft nach Wien gefahren an die Orte des Geschehens wie die Hohe Warte. Ich habe mir alles angeschaut und viel fotografiert. Auf dem Zentralfriedhof habe ich mit einem jüdischen Rabbi gesprochen, um zu erfahren, wieso man als Jude nicht spätestens 1934 Österreich verlassen hat.

Und was hat er geantwortet?
Viele Juden konnten sich damals nicht vorstellen, wie schlimm es werden würde. Antisemitismus gab es ja schon seit Jahrzehnten immer wieder. Sie hatten gelernt, sich damit zu arrangieren. In der damaligen Zeit war es aber kaum denkbar, seine Heimat zu verlassen. Das konnte sich keiner vorstellen. Die Leute waren fest verwurzelt.

Auf welche Weise hast du dich dem Fußball dieser Zeit genähert? Wie hast du dir ein Bild von Sindelar und seiner Fußballkunst verschafft?
In den Zeitungen wird ziemlich genau beschrieben, wie die Tore entstanden sind. Es gibt auch Augenzeugenberichte, auf die ich mich berufe. Und in Filmaufnahmen ist zu sehen, wie Sindelar den Ball technisch sehr gut annimmt und volley direkt aufs Tor schießt. Es gibt nicht viel Bildmaterial, aber man kann erahnen, dass Sindelar zu dieser Zeit wahrscheinlich der beste Fußballer war.

Durch diese Einzelheiten wurde Sindelar in deiner Fantasie lebendig?
Genau. Ich habe Bilder im Kopf und versuche, sie miteinander zu verbinden. Und wenn man Glück hat, kommt eine Geschichte dabei heraus - oder wenn man es draufhat, so wie ich (lacht). Man liest sich in das Thema ein, beginnt, die Figuren und ihre Anekdoten zu lieben, und dann werden sie lebendig. Die sitzen alle auf meinem Zeichentisch und warten darauf, dass es weitergeht. Das klingt ein bisschen bescheuert, ist aber wirklich so.

Kannst du beschreiben, wie ein Arbeitsablauf bei einer Graphic Novel aussieht?
Das Skript ändert sich laufend. Zuerst fange ich an zu schreiben und mache daraus ein Storyboard. Das ist gescribbelt, also strichmännchenartig. Danach geht es immer mehr ins Detail, neue Ideen werden eingebaut. Viele Sachen lasse ich natürlich auch weg. Wenn ich das Storyboard mit der Endfassung vergleiche, gibt es höchstens noch eine Übereinstimmung von 50 Prozent. Ab einem gewissen Zeitpunkt läuft die Geschichte vor einem ab und man zeichnet nur noch hinterher. Das ist tatsächlich so, wie viele Schriftsteller sagen. Ich habe jeden Tag zehn bis zwölf Stunden daran gearbeitet. In diesem Prozess kann und darf man nicht aufhören.

Rudi Hiden

Sascha Dreier

"Der Papierene" enthält fiktive Figuren und Elemente, anderseits hältst du dich sehr genau an historische Fakten aus Politik und Sport. Wie gehst du mit diesem Spannungsverhältnis um?
Das ist natürlich die größte Schwierigkeit, die man zu überwinden hat. Ich habe die Fakten nicht verändert, rundherum erzähle ich aber meine eigene Geschichte. Der Leser weiß ja: Das ist ein gezeichneter Roman und kein geschichtliches Sachbuch. Ich habe aber versucht, die Charaktere nicht zu verändern.

Was sind deine Lieblingsanekdoten?
Besonders mag ich die Geschichte, in der Meisl beim Spiel gegen Ungarn in Budapest dem Wudi Müller hinterherläuft und ruft: "Sie Verbrecher, Sie", und ihm mit seinem Stock eins überbraten will, nur weil er zuvor den Ball verloren hat. Dieses typisch Grantige finde ich toll. Deshalb ist es auch so tragisch, dass Meisl im zweiten Buch nur noch bis zur Hälfte dabei ist. Ich muss erst schauen, ob ich das umgehen kann.

Comicstrip der Papierende

Sascha Dreier

Bleiben wir beim Ausblick. Wir haben im ersten Band Matthias Sindelar schon im Zwiegespräch mit Leopold Drill gesehen. Wie wirst du mit der Geschichte rund um die Arisierung von Drills Kaffeehaus umgehen?
Das ist ein zentraler Teil des Buches und ich will es so darstellen, wie es war. Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich es machen werde, aber natürlich wird das auch für die Person Matthias Sindelar nicht einfach. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man sich immer in die jeweilige Zeit versetzten sollte, wenn man über die Vergangenheit spricht.

Zur Person:

Sascha Dreier legte den Grundstein für seine berufliche Karriere schon zu Schulzeiten. In faden Mathematikstunden lieferte er sich mit einem Freund Comic-Battles, um die Werke anschließend an hübsche Klassenkameradinnen zu verteilen. Später studierte er Architektur in Potsdam und zeichnete Cartoons für das Berliner Stadtmagazin Zitty. Seit 2001 veröffentlicht Dreier Comics zum Thema Musik für den Tagesspiegel und ist nebenbei als Gestalter von Buchcovern tätig. Bekanntheit erlangte der leidgeprüfte Gladbach-Fan vor allem durch seine Zeichnungen für das Fußballmagazin 11Freunde. Sein Naheverhältnis zu Wien verdankt er nicht zuletzt seiner österreichischen Ehefrau.

"Der Papierene: Das Leben des Fußballstars Matthias Sindelar. Band 1: 1903-1933" ist im Oktober 2009 ganze 206 Seiten stark bei Ueberreuter erschienen.