Erstellt am: 2. 12. 2009 - 18:15 Uhr
Journal '09: 2.12./Fußball-Journal '09-115.
Gestern ist Alberto Martinez gestorben.
1
Es war kalt am diesem April-Abend und wir waren unzureichend ausgestattet. Der Wind fegte über den Rand der großen Schüssel, in der es toste und bebte.
Wir zitterten als wir uns über den Rand beugten, nicht weil es da gefühlte 100 Meter runter ins Nichts ging, sondern weil die Kälte unsere dürren jackenlosen Körper peinigte; aber wir grinsten.
Wir grinsten, weil wir es geschafft hatten uns nach ganz oben durchzudrängeln, in den Menschenmassen, die hier kreuz und quer liefen.
Wir grinsten, weil wir jetzt natürlich runterspuckten vom Rand der Riesen-Schüssel und dem Schlatz lachend nachschauten, wie er abwärtstaumelt, als wär' er ein Turmspringer in Acapulco, in versehentlicher windstoßgebeutelter Eleganz.
Und wir grinsten, weil das, was wir bisher sahen, uns erfreute.
2
Es stand torlos in dieser Partie im alten Wiener Praterstadion des Jahres 1978, als Ernst Happel noch lebte und der Umbau noch fern war, als die karge Beton-Schüssel noch das gloriose Ambiente von heute noch überlebenden Ostblock-Stadien hatte.
Und die, deretwegen wir da waren, sahen eine Halbzeit lang sehr gut aus.
Der Hammer-Schorsch zündete sich mit klammen Fingern einen neuen Tschick an, als wir wieder runter auf unsere Plätze hinterm Süd-Tor trotteten.
Das ist das beste gegen die Kälte, sagt er, und muss wieder grinsen, weil er doch genau weiß, was für ein Blödsinn das ist. Aber er sagt's so gern, weil er weiß, dass ich dann die Augen verdreh' und etwas besorgt-tantenhaftes antworte; und genau dort will er mich haben, weil er mich damit aufziehen kann. Heast, wie kannst du deinen Bob Dylan verehren und gleichzeitig was gegens Rauchen haben, sagt er dann und setzt einen drauf, so in der Art von dass man in Zeiten wie diesen doch quasi rauchen müsste, um ein glaubwürdiger Rebell zu sein.
Und ich steige ihm drauf ein, damit er das sagen kann, weil ich sie so gern höre, seine krause Argumentation, weil ich dann wieder drüber lachen kann, über das überdrehte Zeug.
Hauptsache, es wärmt dich schön, sag ich als der Schorsch den nächsten Zitteranfall kriegt. Eh!, sagt er und dann lachen wir beide wie die dümmsten Buben.
3
Wir sind Buben.
Er ist grade 18 geworden, ich bin ein halbes Jahr jünger.
Er ist ein bisserl Austria-Fan, aber nicht so wirklich, der Schorsch hat zu diesen Dingen eine ironische Distanz; ich bin eher bei den Rapid-Spielen gewesen in den Jahren davor, aber auch kein echter Fan.
Ich bin absurderweise ein Fan der Nationalmannschaft, das hat mit dem alten Teamchef Leopold Stastny zu tun, der bei uns in der Nähe gewohnt hat. Den hab ich verehrt, als Bub, und als er es ganz knapp, in einem vermaledeiten Entscheidungsspiel in Gelsenkirchen, zehnmal wilder als Frankreich-Irland, nicht geschafft hat Österreich zum WM 1974, in die Top 16 zu führen, bin ich es geblieben.
Weil die Mannschaft dieses Ziel nie aus den Augen verloren hat: Weltmeisterschaft.
Jetzt hat sie sich für Argentinien qualifiziert, yeah, wir scheißen uns alle schon an vor lauter Vorfreude, wir haben keine Chance in einer Gruppe mit Brasilien, Spanien und Schweden, aber es wird geil.
Und dann noch der Lauf der Austria.
Im Cupsieger-Cup. Klar, das ist nach dem Europacup der Meister nur die kleine Variante, aber wo wenn nicht hier. Im Herbst hat sie Cardiff und Kosice geschlagen, im Frühjahr die Jugos von Hajduk Split und jetzt steht der russische Bär vor der Tür: Dynamo Moskau. Im Hinspiel hat die Austria zwar verloren. aber ein Tor geschossen, es sieht also gut aus für eine Final-Teilnahme, die erste fucking Europacup-Final-Teilnahme überhaupt.
Und das im WM-Teilnahme-Jahr, in unserem Matura-Jahr, im bislang deutlich besten Jahr unseres Lebens.
4
Die Austria-Mannschaft spielt seit gefühlten Ewigkeiten unverändert im immer gleichen System mit der fast immer selben Aufstellung.
Baumgartner im Tor, Teamkapitän Robert Sara rechts in der Abwehr, Obermayer und Sepp Sara zentral, Baumeister links. Im Mittelfeld defensiv Daxbacher und offensiv Gasselich und Prohaska, die Genies. Und vorne drin der hundertjährige Sturm: Parits-Pirkner-Morales, 31-32-33.
An diesem 12. April ist Daxbacher verletzt oder gesperrt, statt ihm spielt Julio Morales, das bullige Kampfschwein aus Uruguay, den Defensiv-Part und vorne kommt joker Fritz Drazan dazu.
Und sie machen sich gut gegen den namenlosen Gegner, vor dem alle große Angst haben, weil diese Kollektive aus dem Sowjet-Imperium eine derart gnadenlose Wucht entwickeln und sowas wie Aufgeben nicht kennen.
Beim Anmarsch zum Stadion hab ich mit einem von Schorschs älteren Bekannten, mit denen wir da waren, politisch diskutieren müssen, weil der geglaubt hat, er müsse ideologisches Kleingeld wechseln, von wegen Überlegenheit der Systeme und so. Der Schorsch hat nur gegrinst und seinen Haberer dann angefeixt, dass er selber schuld wäre, wenn er sich mit mir auf so ein Gebiet begeben würde. Der Martin macht keine Gefangenen, hast das nicht gwusst? sagt der Schorsch und stichelt zu Beginn der ersten Hälfte noch nach.
5
Später dann versickert das Ballyhoo, weil wir uns im Spiel verlieren, in seiner zähen Dynamik, in seiner historischen Spannung. Wenn das gutgeht hier und heute, dann gibt's ein Finale mit einem österreichischen Verein, erstmals und überhaupt, seit Sindelar und ewig.
In der 2. Halbzeit verbröseln dann schnell alle anderen Themen von selbst. Der Pirkner-Hanse macht einen Elfer rein und Morales erhöht auf 2:0, ein Tor mehr als nötig - den Rest des Spiels verbringen wir wie die restlichen 70.000 in der greuslichen Beton-Schüssel stehend und hüpfend.
Weil der Wahnsinn so zum Greifen nah ist und weil wir uns bei jedem Gegenangriff der Russen mit weit geöffneten Augen anstarren. Das darf einfach nicht passieren.
Es passiert dann, in der letzten Minute: Anschlusstreffer und damit Egalisierung des Hinspiels. Verlängerung, leise Verzweiflung, es war so nah, und wieder kommt sowas wie eine Ahnung von Gelsenkirchen auf.
6
Von der Kälte spürt keiner von uns mehr was, wir zittern zwar noch, aber vor echter Aufregung.
Weil das doch nicht passieren darf, dass die Unsrigen, die in beiden Spielen doch echt besser waren, jetzt noch scheitern, vielleicht auch noch irgendwie deppert und unglücklich.
In der Verlängerung spielen dann die Reservespieler die Hauptrollen: knapp vor Schluss sind Pospischil für Drazan und Bertl Martinez, der andere Legionär aus Uruguay, für Gasselich gekommen.
Pospischil ist immer schon unser Opfer gewesen, der Deschek, über den wir uns bei jeder Ballberühung lustig machen; und jetzt tun wir's nicht wie sonst aus Spaß, sondern aus echter Angst.
Bei Alberto Martinez war's andersrum: immer wenn der reingekommen ist, und er ist eigentlich in jedem Spiel eingewechselt worden, hat sich noch ein zusätzliches Momentum, ein Aufbäumen ergeben.
Irgendwie konnte der nicht anders als riskieren, als irgendetwas Unerwartetes zu machen.
Und so war die Verlängerung wie ein Ritt durch Himmel und Hölle, Hoffnung und Entsetzen, Martinez und Pospischil.
7
Tore gingen keine mehr und deshalb kam das Elferschießen. Und es kam zu dem Tor, hinter dem wir gesessen sind, recht weit oben, aber mit guter Sicht auf den Tormann-Rücken.
Der Schorsch hat sich die Tschik jetzt ganz ohne Kommentierung angezündet, die anderen waren zwischen leichenblass und völlig entfesselt und ich hätte gebetet, wenn ich an einen Gott geglaubt hätte.
Die ersten Schützen sind wie in Trance an uns vorübergegangen. Tommy Parits, Pirkner und Prohaska haben ebenso sicher getroffen wie die vier ersten russischen Schützen. Ich bin geistig erst wieder richtig dazugestoßen als Julio Morales angelaufen ist, weil ich mir da irgendwie nicht sicher war, ob er's schafft.
Aber nix da, bum und rein, und wieder der Ausgleich, 4:4 im Elfer-Schießen.
Dann tritt der fünfte Russe an und Hubert Baumgartner fliegt in ein Eck und der Ball fliegt auch dorthin und er hält ihn und wir schreien als würden wir von dutzenden Spießen durchbohrt und würden gleichzeitig Pogo-Tanzen zu White Riot von den Clash.
Wir schreien und schreien und können uns nur mühsam dazu durchringen zu schauen, wer jetzt den letzten Elfer für uns schießen wird, um jetzt endlich das klarzumachen, was schon längst vorher verdient und richtig gewesen wäre.
8
Uj, der Bertl, schreit der Schorsch.
Es ist Alberto Martinez, der Risiko-Läufer im Schachspiel der Austria.
Oida, bitte! schreit es neben mir und ich weiß, dass ich mir denke, das ich froh bin, dass jetzt er, und nicht der einer von den Defensiven oder gar der Pospischil...
Dann rennt er an und alles wird gut.
Dann explodiert die Welt und wir haben Tränen in den Augen.
Nachdem die Hysterie sich wieder in posteuphorische Normalität verwandelt hat, sind der Schorsch und ich nochmals an den Rand der Schüssel hochgestapft. Ich weiß nicht mehr, was wir da gemacht oder geschrien haben, hinaus in die Prater-Nacht.
Ich weiß nur noch, dass der Wind mich gewärmt hat.
9
Im Juli, direkt nach der Fußball-WM, bei der sich das Team Österreich nicht nur in Cordoba prächtig geschlagen hat, sind der Schorsch, ich und noch ein anderer Typ nach Nürnberg gepilgert um dort Dylan zu sehen, am Zeppelinfeld, dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Es war eine wilde Begegnung mit der Vergangenheit, der Gegenwart und einer möglichen Zukunft. Und ja, wir Österreicher wurden von allen Deutschen, die wir auf diesem Trip getroffen haben, respektvoll behandelt.
Uruguay hat sich nicht für die WM 78 qualfiziert, sonst wären Morales und Martinez auch dabei gewesen. Das Europacup-Finale, gegen Anderlecht, war ein Flop, aber wir waren drin.
Der andere Typ ist seit kurzem mein Facebook-Freund, nachdem ich sicher 20 Jahren nichts von ihm gehört habe.
Der Schorsch ist vor einigen Jahren gestorben, völlig überraschend, Herzstillstand. Und das nicht, weil er ein hektisches Leben führte, ganz im Gegenteil, er hatte auf die Erwartungen seiner Familie keine Rücksicht genommen und bewußt ein ruhiges kleines Leben gewählt.
Er liegt auf einem Friedhof, an dem ich drei-, viermal im Jahr vorbeifahre, wenn ich eine bestimmte Route nehme.
Ich grüße ihn dann jedesmal.
Alberto Martinez ist gestern gestorben. Eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Das Herz. Es war angegriffen, seit langem. Sein Sohn Sebastian lebt und arbeitet in Österreich. Seine Austria Wien wird morgen vorm Heimspiel gegen Bilbao um ihn trauern.