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Thomas Edlinger

Moderiert gemeinsam mit Fritz Ostermayer "Im Sumpf".

1. 12. 2009 - 19:15

Die Tode des Autors

Roberto Bolanos monumentaler Roman "2666" manövriert sich mit obsessivem und doch erkaltetem Blick durch Frauenleichenberge in Nordmexiko.

2666. Meint der Titel dann vielleicht eine unheilvolle Zukunft, in die wir bereits jetzt verstrickt sind? Oder ist die Zahl bloß ein Köder - zum Beispiel für jene Internet-Leseselbsthilfegruppe, die in genau 111 Tagen (also 2666 Stunden) diesen posthum nun endlich auf deutsch erschienenen Roman des 2003 verstorbenen Chilenen Roberto Bolano verdaut? Definitely maybe. Sicher ist: Die Zahl 2666 kommt im 1100 Seiten-Monster "2666" nicht vor. Stattdessen ist hier, frei nach Wittgenstein, die Welt alles, was der ungeklärte Fall ist. Da gibt es zum Beispiel beherrschte Telefongespräche zwischen eifersüchtigen Nebenbuhlern: "Das Wort Entschlossenheit fiel zwölfmal. Das Wort Solipismus siebenmal. Das Wort Euphemismus zehnmal.(...) Die Worte Augen und Hände und Haare vierzehnmal. Danach wurde das Gespräch flüssiger."

Hanser Verlag

Der erste Teil dieses aus vier Büchern und von seinen Nachlassverwaltern als ein Werk herausgebenes Opus Magnum dieses Fallenstellers widmet sich den Spiegelfechtereien von vier Literaturwissenschaftern, die mit Hingabe einem fiktiven deutschen Autor namens Benno von Archimboldi nachspüren. Dieser Mann bleibt, wie so vieles in diesem Buch, lange Zeit verschwunden. Später gefriert dieser abgründige Witz in den seitenlangen Auflistungen von Polizeireporten zu den mysteriösen Frauenmorden, die real in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juarez stattfinden. Wie ein Buchhalter des Grauens breitet Bolano so einen rational verkleideten Wahn aus, der sich zu einem Roman im Zeichen des wortreichen Sinnverlusts entfaltet - ein Text voller Bezüge, die teilweise ins Nichts führen.

Santa Teresa

Im Buch wird etwa aus Ciudad Juarez die fiktive Stadt Santa Teresa. Aber ihre Charakteristik als Chiffre für die Verrohung, das Elend der Intellektuellen, die sadistische Gewalt im Fahrwasser eines misogynen Machismo und die ökonomische Ausbeutung in den Niedriglohnfabriken der internationalen Konzerne bleibt erhalten. Mexiko, das ist nicht nur für Bolano ein alptraumhafter, fast obszön korrupter Staat in der Dauerkrise, angenagt vom organisierten Verbrechen: "Alles in diesem Land ist eine Anspielung auf alle Dinge dieser Welt, einschließlich der Dinge, die es noch nicht gibt." In Ciudad Juarez, in dem seit 1993 über 500 Frauen und junge Mädchen grausam ermordet und meist auch vergewaltigt wurden, musste dieses Frühjahr auf Druck der Drogenkartelle der Polizeipräsident zurücktreten. Man hatte öffentlich mit einer jeden zweiten Tag stattfindenden Ermordung von Polizisten gedroht und bereits ein erstes Exempel statuiert. Der Polizeipräsident trat daraufhin wie gewünscht zurück - und man kann sich nun denken, wer unter welchen Bedingungen nun seine Nachfolge antreten durfte. Das also ist das Klima gesellschaftlicher Deformation, das Bolano meint: "Niemand schenkt den Morden Beachtung, dabei liegt in ihnen das Geheimnis der Welt verborgen."

Aber wer kann das Geheimnis lüften? Da ist zum Beispiel ein Philosophieprofessor an der Schwelle zum Überschnappen. Er hängt ein Duchamp´sches Readymade in Form eines Buchs namens "Geometrisches Vermächtnis" auf der Wäscheleine im verwilderten Garten seines Hauses auf und beobachtet die flatternden Seiten im Wüstenwind.

Vielleicht ist "2666" ja selbst in gewisser Weise die Ironisierung eines geometrischen Vermächtnisses. Ein ausufernder und zugleich über seine Unmöglichkeit aufgeklärter Versuch der mathematischen Vermessung einer Gegenwart, die sich hier auch mit ihrem Verhältnis zur deutschen Herrenmenschenideologie herumschlagen muss. Denn im Wüten der Nazis, so legt Bolano nah, nahm eine moderne, rationalisierte Barbarei ihren Anfang, die ein halbes Jahrhundert später in den bis jetzt unaufgeklärten Serienmorden in Nordmexiko ihre Fortsetzung findet.

Über Robert Bolano

Roberto Bolano wurde 1953 in Santiago de Chile geboren. Mit 20 Jahren entging er nur knapp den Folterknechten von General Pinochet und floh nach Mexiko. Gemeinsam mit ein paar wegen revolutionärer Umtriebe von der Universität geschmissenen Studenten gründete Bolano die Gruppe der Infrarealisten. Das von Bolano verfasste "infrarealistische Manifest" verpflichtete seine Anhänger zu Alkoholexzessen in Unterweltsspelunken, sexuelle Eskapaden auf dünner Matratze und klammen Tagesanbrüchen ohne Aussicht auf ein anständiges Frühstück. Bolano verließ 1977 wieder Mexiko und siedelte sich nach Jahren des verarmten Vagabundierens in Spanien an. Mit 38 Jahren erfuhr er von seiner lebensgefährlichen Leberkrankheit und schrieb ab dann wie ein Getriebener bis zum seinem Tod. Die Kritik adelte sein Gesamtwerk mit dem Ausdruck "Planet Bolano". Seine Reaktion: "Das klingt lustig. Aber mein Werk ist kein Planet, sondern höchstens ein Meteorit, und zwar ein harmloser. Einer jener Meteoriten, die auf die Erde fallen, ohne dass es jemand bemerkt. Es sei denn, sie zertrümmern den Schädel einer Kuh, dann bemerkt es wenigstens deren Besitzer."

  • "2666" ist in der Übersetzung von Christian Hansen bei Hanser erschienen

Und was bedeutet nun 2666 wirklich? Ein Hinweis findet sich in Bolanos Roman "Amuleto", in dem es über das nächtliche Mexico City heißt: "Die Avenida ähnelt um diese Stunde vor allem einem Friedhof, aber weder einem Friedhof von 1974 noch einem von 1968 oder 1975, sondern einem Friedhof im Jahre 2666, einem Friedhof, vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässrigen Rest eines Auges, das etwas vergessen möchte oder alles vergessen hat."