Erstellt am: 27. 11. 2009 - 15:02 Uhr
Deutsch lernen für eine neue Identität
„Das sind die Augen. Damit kann man sehen.“ Sieben Augenpaare schauen konzentriert auf die Lippen der Deutschlehrerin Edina Rotim-Alendar und versuchen die Sätze zu wiederholen. Sieben junge Männer zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, die erst seit wenigen Monaten in Österreich sind. Sie sind alleine aus Afghanistan oder Somalia geflüchtet und wohnen jetzt mit Gleichaltrigen zusammen im Laura-Gatner-Haus, einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Viermal pro Woche werden im kleinen Klassenzimmer im 2. Stock Deutschkurse für Anfänger und Fortgeschrittene abgehalten. Der sechszehnjährige Sami (Name geändert) lernt seit drei Monaten Deutsch. In Hauspatschen und Jogginghose sitzt er mit sechs anderen Burschen am Tisch und versucht eine Grammatikübung zu lösen. Seine Stirn liegt in Falten, und er sieht angestrengt aus. „Deutsch ist schwer“, sagt der junge Afghane schüchtern. „Und ganz anders als meine Muttersprache Farsi“. Farsi ist die eigentliche persische Sprache und wird mit arabischen Buchstaben geschrieben. Das heißt, Sami muss hier im Kurs nicht nur die deutsche Aussprache, sondern auch das lateinische Alphabet komplett neu erlernen und gibt sich dabei sichtlich Mühe. Nach kurzer Zeit kann er aber bereits einfache Gespräche führen und sich mit seinen Betreuern und den Burschen, die nicht aus Afghanistan kommen, unterhalten.
Radio FM4 / Mari Lang
„Sprache ist für die eigene Identität enorm wichtig“, meint seine Lehrerin Edina Rotim-Alendar, die seit knapp einem Jahr im Flüchtlingsheim arbeitet. „Dadurch können die Jungs auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen und sich eine Art neue Persönlichkeit erschaffen.“ Die Mittvierzigerin mit den feuerroten Haaren weiß selbst was es heißt fremd zu sein. Zu Beginn des Jugoslawienkrieges ist sie aus Bosnien geflüchtet und hat in Österreich neu angefangen. Deutsch konnte sie damals aber schon, und „das war sicher ein großer Vorteil“, sagt sie nachdenklich. Umso enthusiastischer versucht sie den jungen Flüchtlingen im Laura-Gatner-Haus die deutsche Sprache beizubringen.
Mit Händen und Füßen erklärt sie die Grammatik und verschiedene Vokabel. Heute sind die Sinnesorgane dran. Auf die Tafel hat sie ein Gesicht gezeichnet, daneben stehen die dazugehörigen Begriffe auf Deutsch. Edina Rotim-Alendar wiederholt sie und spricht dabei wie auf einer Theaterbühne. Ihre Stimme ist fest und ihre Mimik und Gestik unterstreichen die Bedeutung des Gesagten. Es ist schwierig jemandem eine Sprache beizubringen, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt. „Deshalb muss ich vermehrt zu Hilfsmitteln greifen. Methoden wie Szenariendidaktik und Dramapädagogik eignen sich da besonders gut. Das Ganze ist dann mehr ein spielendes Lernen als ein uninspirierter Frontalunterricht.“
Der Tisch vor den jungen Flüchtlingen ist vollgeräumt mit Buntstiften, Radiergummis und Papier. Sie zeichnen auf, was die Lehrerin vorliest. Augen, Nase, Mund. Manchmal unterhalten sie sich auf persisch oder in einer ihrer anderen Muttersprachen. Doch meistens sind sie ungewöhnlich still. Auf dem Tisch liegt auch ein „Persisch-Deutsch“-Wörterbuch, für den Fall, dass es mit der Verständigung zwischen Schülern und Lehrerin nicht 100%-ig klappt. „Ich habe eine gute Lehrerin“, sagt Sami mit einem Lächeln, und ein bisschen wirkt es, als hätte er diesen Satz auswendig gelernt.
Radio FM4 / Mari Lang
Das Klassenzimmer ist ein schlicht möblierter Raum. Ein paar Tische, Sessel und eine Zimmerpflanze im Eck. An der Wand hinter den Burschen hängt eine Weltkarte und ein paar Zettel mit Übungssätzen. „Wenn du Hunger hast, dann nimm dir was zum Essen“, steht da zum Beispiel.
Es ist fast Mittagszeit, und unter der Tür kriecht der Geruch von gebratenen Zwiebeln herein. Für heute ist die Deutschstunde vorbei. Edina Rotim-Alendar gibt ihren Schülern noch eine Hausübung auf, die genauso wie der Besuch des Kurses auf Freiwilligkeit basiert. Der 16-jährige Sami übt jeden Tag. „Ich spreche mit meinem Betreuer, ich lese ein bisschen und mache die Übungen.“ Auf die Frage, ob er die Hausaufgaben auch manchmal mit den anderen Jungs gemeinsam macht, antwortet er mit einem vehementen Kopfschütteln: „Nein, ich mache sie immer alleine. Ich will dann im Deutschkurs sehen, ob sie richtig oder falsch sind.“
Die jungen Flüchtlinge im Laura-Gatner-Haus sind alleine unter großen Gefahren und Strapazen nach Österreich gekommen. Sie sind es gewohnt sich alleine durchs Leben zu schlagen. Vertrauen zu anderen und das Gefühl von miteinander werden sie erst langsam wieder erlernen können. Die deutsche Sprache ist der erste Schritt dazu.
FM4 für Licht ins Dunkel
FM4 sammelt heuer im Rahmen von Licht ins Dunkel Spenden für das Laura-Gatner-Haus. Wie man helfen kann und welche Aktionen es gibt findet man hier und unter fm4.orf.at/lichtinsdunkel.