Erstellt am: 20. 11. 2009 - 19:09 Uhr
Die archaische Dynamik von Angst und Gewalt
Doch klären wir zu Anfang, was ein "Septemberleuchten" überhaupt sein soll:

Nagel & Kimche
Das Licht über dem See, wie man es nur im späten September erlebt, wenn die Sommerhitze bereits von den Tagen abgefallen ist und alles trotzdem noch immer diese Wärme in sich trägt. Die Wiesen, der Ufersand, das verfärbte Laub der Buchen und eben dieses Licht, das keinen Raum für Zweifel lässt.
Dieses Leuchten (bzw. sein Name) ist eine Erfindung des Autors. Es symbo-lisiert das Unschuldige, das Idyll. Denn alles andere in Gülichs Buch ist das Gegenteil von Rein und Schön - bis ins Abscheulichste verkehrt.
"Septemberleuchten" ist das Protokoll des Protokolls eines Mitläufers. Kron heißt er und ist ein Mann, wie man ihn nicht zum Freund haben möchte. Im Laufe des Romans wird er an verschiedene - sagen wir mal - Weggabelungen kommen, doch immer die falsche Abzweigung wählen.
Im Interview
Autor Martin Gülich sagt über seinen Protagonisten, ihn treibe die Angst: "Es gibt ja in dem Text mehrfach Kipppunkte, wo die ganze Sache sich gegen ihn zu wenden droht, und wo er letztlich sehr erleichtert ist, dass die Gewalt sich wieder auf das Opfer von zuvor fokussiert. Natürlich hat er Angst davor, selbst zum Opfer dieser Konstellation zu werden und verhält sich dementsprechend so, dass das nicht passiert. (...) Und das ist ja die klassische Situation, wenn es um das Wegschauen geht. Es geht immer um die Angst, selbst zum Opfer zu werden – und dann lieber still zu sein oder in dem Fall sogar zumindest am Rande mitzumachen."
"Septemberleuchten“ dreht sich um vier Männer, flüchtig bis gar nicht miteinander bekannt. Durch Zufälle trifft man sich eines Samstag nachmittags in der Stadt, trinkt miteinander – und beschließt in der Folge, den Tag am nahe gelegenen See ausklingen zu lassen. Was man an diesen Abend macht, tut nichts zur Sache, nur das WIE. Denn die Konstellation der Vier sieht wie folgt aus:
2, die sagen, wo´s lang geht.
1, der zusieht.
Sowie der letzte, der der Getriezte ist.
Wobei Triezen wesentlich zu lieblich gefasst ist, denn das, was hier passiert, heißt Gewalt.
Schikane
Schon von Beginn an wird der vierte, bis zuletzt namenlose Mann schikaniert – mit steigender Intensität. Zuerst zwingt man ihn mit zu trinken und zu essen, dann mit zu kommen. Irgendwann folgt der erste Schlag. Und bei dem wird es nicht bleiben.

privat
"Septemberleuchten" ist ein Text über Entschlossenheit und Widerstand bzw. den Mangel daran. Martin Gülich meint im Interview, er wolle sein Buch auch als eine Selbstbefragung sehen, seiner selbst wie des Lesers, der Leserin:
"Wo stehst du in dem Moment, wo du das Buch liest. (...) Wie leicht oder schwer gelingt es, sich in diese Köpfe reinzuversetzen, wie leicht oder schwer ist es, gedanklich mit einzuschlagen auf den Mann."
"Septemberleuchten" ist wie gesagt ein Tatsachenbericht, allerdings konjunkti-vistisch, in der dritten Person erzählt. Man weiß nicht, wem der Protagonist alles erzählt hat; ein Unbekannter also, der die Geschehnisse wiederum an uns weitergibt. Das fügt eine weitere Unsicherheitsebene ein.
Erstaunlich, dass der Stil dabei dennoch irgendwie blumig daherkommt.
Das Frappanteste überhaupt
"Septemberleuchten" hat, zumindest mich, vehement an Michael Hanekes "Funny Games" erinnert. Ein Film über zwei junge Männer, die zum tödlichen Alptraum einer Familie werden. Dieses Erinnern hatte freilich nichts mit dem Inhalt zu tun, es passierte auf einer rein emotionalen Ebene, das Gefühl beim Rezipieren sozusagen. Man will aufschreien, eingreifen, hinein in das Buch, alle rütteln. Eventuell wird man sogar selbst aggressiv. Martin Gülich dazu:
"Funny Games ist für mich ein wahnsinnig wichtiger Film und ein Stück weit hat der sicher auch die Entstehung dieses Buches mitgeprägt. (...) Ein Film, der mich nachhaltig beunruhigt hat und es gibt ganz gewiss Parallelen. Diese Gewalt, die aus dem Nichts kommt. Das ist ja auch ein wichtiger Aspekt dieses Buches, das die Gewalt nicht erklärt wird, sie ist einfach da. Und das ist von allen Formen der Gewalt für mich die Beunruhigenste, wenn man nicht mehr versteht, wo sie herkommen kann."
"Septemberleuchten" von Martin Gülich ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen.