Erstellt am: 17. 11. 2009 - 00:04 Uhr
Provozierte Aufregung
Activision
Infinity Wards neuer Shooter "Modern Warfare 2" sollte ein hartes Spiel sein, dreckig, realistisch, ganz im Stil der großen Antikriegsfilm-Ästhetik, mit dem "modernen" Hightech-Krieg als Thema. Es war schon vor Veröffentlichung klar, dass "Modern Warfare 2" die üblichen Spieleskeptiker nicht von ihren altbekannten Vorurteilen abbringen würde, die in den ultrarealistischen virtuellen Schlachtfeldern immer gern "Tötungssimulatoren" erkennen und bei jedem School Shooting sofort die bösen "Killerspiele" verantwortlich machen. Umso unverständlicher ist es, dass "Modern Warfare 2" in einer bereits Tage vor Verkaufsstart breit medial diskutierten Spielsequenz auf eine Art und Weise provoziert, die ratlos und auch etwas enttäuscht zurücklässt - umso mehr, weil der beeindruckend gelungene Hochglanzshooter das eigentlich gar nicht nötig hätte. In Russland wurden die Konsolenversionen des Titels inzwischen deswegen sogar vom Publisher vom Markt zurückgeholt.
Weil's im Spielejournalismus halt so üblich ist, hier pflichtbewusst eine kleine Warnung: Im Folgenden werden Handlungsteile von "MW1" und "MW2" verraten. Spoiler-Warning!
Massaker am Flughafen
Die Rede ist von der inzwischen durch die Online-Medien und (amerikanische) Massenmedien gegangenen berühmt-berüchtigten Flughafenszene in der ersten Spielstunde. Der Spieler ist, so viel erklärt das knappe Briefing, undercover mit bösen russischen Terroristen unterwegs und darf seine Deckung nicht gefährden. Was folgt, ist ein terroristischer Amoklauf durch einen russischen Flughafen, in dessen Verlauf, wie bei den Anschlägen von Mumbai, der Spieler gemeinsam mit den wild auf Zivilisten und Sicherheitskräfte feuernden Terroristen eine Spur der Verwüstung durch den weitläufigen Airport zieht. Wendet man sich gegen die Terroristen, heißt es sofort "Game over" - man ist gezwungen, bis zum Ende des Massakers durchzuhalten und auf bewaffnete Polizisten zu schießen.
Der Fairness halber sei ein Detail erwähnt, das die sensationsgierigen Skandal-Herbeirufer gerne unterschlagen: Bereits bei Beginn des Spiels, das weltweit ohnedies als "nur für Erwachsene" eingestuft wurde, wird der Spieler darauf hingewiesen, dass einige "verstörende" Szenen vorkommen, die auch straflos übersprungen werden könnten. Der Publisher Activision war sich also des Dilemmas wohl bewusst, den Spieler selbst nicht in einer Zwischensequenz, sondern als Akteur in die Perspektive der Zivilisten massakrierenden Terroristen zu versetzen, respektierte aber wohl den Wunsch des Entwicklers Infinity Ward, hier seine erzählerischen Experimente weiterzuführen, die im Vorgänger "Modern Warfare" auf beeindruckende Weise vorgezeigt hatten, dass das Medium des First-Person-Shooters zu originellen Erzählstrategien fähig ist.
Schon die Eingangssequenz des älteren Spiels versetzte den Spieler in die hilflose Rolle eines Gefangenen, der am Ende der Einleitung überraschend hingerichtet wird, und in der Spielmitte verbringt man einige erschütternd quälende Momente damit, nach der Explosion einer Atombombe sterbend durch die Trümmer zu kriechen - alles Hinweise darauf, dass Infinity Ward auch an der Demontage von Heldenrollen interessiert ist und, analog zum Antikriegsfilm, den Konsumenten durchaus zur Reflexion anregen möchte. "Modern Warfare 2" gelingt tatsächlich über weite Teile das Kunststück, als "Antikriegsspiel" durchzugehen. Die Verteidigung des jetzt im medialen Sturm der Empörung stehenden Entwicklers ist deshalb nicht ganz von der Hand zu weisen: Man wollte, wie auch in anderen Medien gang und gäbe, den Spieler durch diese bewusst grausame Spielsequenz emotional aufrütteln, um die folgende Handlung spannender und die Jagd nach dem Bösewicht nachvollziehbarer zu machen - naja.
Games-Journalistenlegende Charlie Brooker bringt die Fragwürdigkeit der Szene in seinem Review für den Guardian auf den Punkt: "It feels jarringly misplaced, like a cartoonish Bond movie containing a 20-minute scene in which Blofeld tortures his cat to death."
Activision
Ein Medium wie jedes andere
Guillaume de Fondaumiere, co-CEO von Quantic Dream, dessen "Heavy Rain" ebenfalls dezidiert mit "erwachsenen" Themen wirbt, verteidigte die umstrittene Szene: "I don't see any reason why video games should be treated differently than movies, for instance. I think that we should leave game creators free of expressing their vision as they see fit." Geht es also hier um das vor allem den USA heilige Recht auf freie Meinungsäußerung? Tatsächlich werden in Film und Literatur ähnlich grausame Szenen als akzeptierter Bestandteil "erwachsener" Titel wahrgenommen. Ist es also Heuchelei, wenn bei dem von vielen Seiten fälschlich immer mit Kindern und Jugendlichen assoziierten Medium Games hier andere Maßstäbe angelegt werden, unter anderem weil es vom Spieler aktives Mitmachen erfordert?
Die Frage stellt sich anders, wenn man sich den Stellenwert von "Modern Warfare 2" vor Augen hält: Es ist der am meisten beworbene Triple-A-Titel des Jahres, ausgestattet mit einem der größten Werbebudgets und der wahrscheinlich größten medialen Massenwirkung, Mitternachtsverkäufe inklusive. Nicht umsonst verlegten einige Spielehersteller wegen der Übermacht von "Modern Warfare 2" die Veröffentlichung ihrer Titel nach hinten, um nicht unterzugehen. Dass ausgerechnet dieses Spiel sich mit einer derart mutwillig losgetretenen Kontroverse ins völlig erwartbare Sperrfeuer der stets gleich ablaufenden öffentlichen Kritik am Medium insgesamt begeben muss, ist ein ohne gute Gründe provozierter Skandal, der sowohl dem ganzen Medium als auch dem Spiel selbst nicht gut tun kann.
"Modern Warfare 2" ist mit einer Altersfreigabe ab 18 Jahren für Xbox360, PS3 und PC erhältlich.
Der steinige Weg
Denn eines sieht man an "Modern Warfare 2", bei aller Sympathie für die Weiterentwicklung des Mediums hin zu reiferen und erwachseneren Themen, ganz deutlich: Auch wenn Spiele mit denselben geschmacklosen Schockeffeckten arbeiten dürfen sollen wie schlechte Actionfilme, bedeutet das noch lange keinen Qualitätsschub und keine künstlerische Bereicherung. Schade, dass gerade ein ansonsten beeindruckend gelungenes Hochglanzprodukt wie "Modern Warfare 2" auf diese programmierte Provokation nicht verzichten konnte und anscheinend darum kämpfen will, abgesehen vom Spielerischen inhaltlich ebenso dumm, geschmacklos und reißerisch sein zu dürfen wie der Bodensatz der arrivierteren Medien. Besonders erwachsen ist das nicht, vor allem, da auch abseits der Schock-Szene das erzählerische Niveau maximal an Tom Clancy heranreicht.
Spiele für ein erwachsenes Publikum, mit erwachsenen Themen, die auch emotional bewegen - ja bitte! Auf mutwillig provozierte Tabubrüche als Publicitystunts sollte man aber dafür vielleicht eher verzichten: Der Weg zum anerkannten Medium wird dadurch nicht weniger steinig.