Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Journal '09: 14.11."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

14. 11. 2009 - 21:15

Journal '09: 14.11.

20 Tage später: der Uni-Protest ist globalisiert, der Sarrazynismus in der Debatten-Mitte angekommen und Österreich weiter kein Einwanderungsland. Eine kleine Zusammenführung.

Alles zum Uni-Protest unter fm4.orf.at/uni. Franzobel zum Fall Zogaj, und dann noch eine kleine Reihe darüber, wohin Diskurslosigkeit führt, und das war der Ausgangs-Punkt rund ums Thema Sarrazin/Sloterdijk.

Vor drei Wochen hab ich - mitten in die damals frischen Uni-Proteste - das thematsiert, was im bundesdeutschen Diskurs schwelte: die von Peter Sloterdijk noch weitergetriebene Sarrazin-Debatte rund ums Naserümpfen des deutschen Bürgertums, was elitaristischen "Man wird's ja noch sagen dürfen!"-Unflat, der sich gegen Migranten oder scheinbare Minderleister richtet, betraf.
Mir war das auch deshalb wichtig, weil es am drauffolgenden Nationalfeiertag galt, Österreichs weggeschobene Rolle als Einwanderunsgland herauszustreichen. Ein Selbstbekenntnis, das im jetzt wieder aufpoppenden Fall Zogaj wichtig gewesen wäre, um zu einer sinnhaften (und weitreichenden) Lösung zu kommen.

Drei Wochen später...

Auschnitt aus dem Bericht der heutigen taz: "Motiviert zu den Besetzungen wurden die Studierenden durch die seit Wochen andauernden Massen-Proteste in Österreich. In Wien hatten (Studierende) Ende Oktober den größten Hörsaal der Universität besetzt, in ihren Presse-Mitteilungen sprechen die Studierenden von einem 'internationalen Zusammenhang', der durch die Wiener Initiative hergestellt sei, als Ansprech-Partner werden Kontakte zu Österreichern vermittelt.
In der Berliner Humboldt-Universität bekommt ein österreichischer Komilitone donnernden Applaus, als er die Studierenden mobilisiert, man solle 'einen Flächenbrand' wie in seiner Heimat entfachen."

Drei Wochen später haben sich alle Debatten gedreht und entwickelt.

Die zuerst in Wien gestarteten, später auf ganz Österrreich ausgeweiteten Studierendenproteste haben es auf ein globales Level geschafft, der Funke ist auf Deutschland übergesprungen, wo man scheinbar nur auf einen Anlassfall gewartet hat, Solidaritäts-Aktionen und Proteste reichen bis Berkeley.
Die beste Überblickskarte findet sich hier auf Tom Schaffers ZurPolitik-Site.

Während heimische Hausmeister täglich irgendwelche Kosten zusammenrechnen, die durch diese (unbezahlbare) praktische Übung in politischer Bildung und Partizipations-Demokratie, durch diese Bürger-Initiative, die es geschafft hat, das zentrale Problem der Republik anzugehen, und sich als erste lösungsorientierte politische Bewegung seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, manifestiert, angeblich entstehen, sehen die sonst wesentlich konsistenteren deutschen Studis das als Ansporn, um auch ihre Misere offen auf den Tisch zu legen. Was dort auch deutlich offener zur Kenntnis genommen wird - weil Bildungspolitik in Deutschland nicht mit dem Makel des "G'scheiterlns" versehen ist, mit der ihr hierzulande eine parteiübergreifende Koalition der dumpfen "Brauchmanet!"-Kräfte jahrzehntelang das Wasser abgegraben haben.

Genau die sind jetzt die letzten Widerständler gegen eine inhaltliche Beschäftigung mit den (mittlerweile von Mittelbau, Profs und Rektoren unterstützten) Protesten; und es werden immer weniger. Zuletzt ist sogar die Kronen-Zeitung umgefallen und fordert jetzt Lösungen von "der Politik".

Boah, die Armen nerven...

Soweit ist man in Deutschland (noch) nicht.
Dort hat sich das Thema des "Sozialneid von oben", der konservative Wunsch nach Abtrennung von der Unterschicht, als zentrale Debatte etabliert - was natürlich auch mit der neuen schwarz-gelben Regierung zu tun hat, deren gedämpfter und als sozial verkleideter Neoliberalismus schlauerweise schon verhandelt wird, ehe er erste Zeichen setzen kann.

Denn dafür ist ein öffentlicher Diskurs gut: dass Wichtiges schon diskutiert wird, bevor es zu unsinnigen Handlungen kommt. Institutionelle Abwesenheit von Diskurs (Musterland: Österreich) hingegen lässt nur die Möglichkeit des Hinterherjammerns nach bereits zerbrochenem Porzellan offen. Das ist dann kein Diskurs, sondern ein Heulsusen-Chor und somit recht sinnleer.

Siehe auch: Stephan Lessenich, Klaus Dörre und Hartmut Rosa "Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte." erschienen bei Suhrkamp.

Der interessanteste Denk-Ansatz ist meiner Meinung nach der von Stephan Lessenich, einem Soziologie-Professor aus Jena, der in einem Essay in der aktuelle Ausgabe des Freitag - in seiner Netz-Variante leider inkomplett...- wo er folgendes sagt:

"20 Jahre nach dem Mauerfall erleben wir somit eine neue Bürgerbewegung, die diesmal nicht nach Inklusion strebt - vielmehr nach Exklusivität. Die von ihr angestrebte neue Bürgergesellschaft konstituiert sich als Exklusivraum sozialer Differenz: diese Gesellschaft feiert weibliche Kanzlerinnen und erträgt schwule Außenminister, aber sie duldet nicht die Lebensweisen, Handlungsmuster und Ausdrucksformen der nicht-bürgerlichen 'Unterschichten' - ganz gleich ob deutscher oder nicht-deutscher Staatsbürgerschaft."

Anmerkung: In Österreich gibt es nicht einmal das, was in Deutschland gefeiert und ertragen wird. Frau Glawischnig kann sich mit Kinder-oder-Karriere-Pseudofragen rumschlagen und Schwulsein ist so böse, dass es bis über den Tod hinaus zumindest weggedrückt werden muss.

Aktive Entsolidarisierung

eat the poor - sloterdijk-cover

jungle world

Lessenich warnt vor der bewusst vorangetriebenen und auch noch mit (von Sloterdijk verwendeten) Signets wie "Freiheit = Gleichheit" geschmückten Komplett-Entsolidarisierung der Gesellschaft, ihrem vollständigen Zerreißen in Ober und Unter. Dass die noch vor Jahresfrist sowohl mit Neoliberalismus als auch mit Neokonservativismus komplett an die Wand Gefahrenen es nunmehr mit entideologisierten Argumenten (noch übler: dem "gesunden Volksempfinden") probieren, verbessert die Lage nicht.

Im angesprochenen Magazin Freitag findet sich im übrigen eine Skizze über den Fortgang der Sloterdijk-Debatte: wer wann so in etwa was, und vor allem: mit welcher Intention, gesagt hat. Eine taktische Analyse auf hohem Niveau also.

So führt man Debatten, meine ich.

Auch der Fußball, wo derlei eher verortet ist, setzt dieser Tage Diskurs-Themen. Andreas Rüttenauer, taz-Sportredakteur schreibt, dass vor allem DFB-Chef Theo Zwanziger so etwas wie gesellschaftspolitische Sendebewusstsein entwickelt habe. Nach dem Kampf gegen den Rechtsextremismus und dem Versuch in der Integrationspolitik ein korrektes Vorbild zu sein, setzt sich Zwanziger jetzt - Anlassfall Enke - für ein Aufbrechen der starren Männlichkeits-Pose, die Themen wie Homosexualität, psychische Belastung, mentale Defekte oder Burn-Out und Depression wegdrängt, ein.
Und wird auch hier massiv Bewusstsein für ein Umdenken schaffen.

Wie weit da der österreichische Zechenkasgeruch-Umkleidekabine-Machoismus im Bereich Fußball hinterherhumpelt, ist gar nicht messbar. Immerhin schafft es (nicht zum ersten Mal) ein mutiger Bursche namens György Garics die richtigen Worte zu einem Anfang zu finden.

Keine Sorge: ich will hier nicht behaupten, dass alles mit allem zu tun hat; jedes der hier angerissenen Themen ist eigenständig zu diskutieren.
Hin und wieder tut aber eine Zusammenführung ganz gut, zumal es ein paar gemeinsame Nenner gibt: Kommunikationslosigkeit, Diskursarmut, Entsolidarisierung.

Und am Schluss noch ein Abstecher...

Und mir zumindest tut auch der Blick über die Grenzen gut. Auch in die Schweiz, selbst in die mittlerweile zum übergeschnappten Zentralorgan des Raubtier-Kapitalismus gewordene Weltwoche. Dort schreibt der Chef, der mir nur noch mit den weit aufgerissenen Augen des Verschwörungstheoretikers vorstellbare Roger Köppel im Editorial über seine Heimat, das Nichteinwanderungsland: "Wer nach Amerika auswandert, will sich neu erfinden und Amerikaner werden. Wer in die Schweiz kommt, sucht ein intaktes Umfeld und bessere Löhne." Ein Kleinstaat, meint Köppel, könne nur wie eine Elite-Uni funktionieren: sich um Leute bemühen, die Mehrwert versprächen. Das wäre weder hartherzig noch arrogant, sondern der einzige Weg Wohlstand zu bewahren.

Nun ist die Schweiz mit ihrem Programm der inneren Abschottung (es ist dort wie sonst wohl nirgendwo unmöglich sich zu integrieren, weil das aktiv abgelehnt wird) und der bewussten Zweiteilung der Gesellschaft (Schweizer und hochqualifizierte Fachleute, die sie bedienen) kein Vorbild für irgendjemanden sonst.

... und eine Hoffnung.

Weil mir aber klar ist, dass die, die Sarrazins Kopftuchmädchen-Spruch und Sloterdijks "Man wird doch wohl noch..."-Assistenz zustimmen, auch die Köppel-Definition richtig und lässig finden:
Genau dieser präzis gesetzte Unterschied zwischen den USA (die er mit "Amerika" meint) und der Schweiz ist letztlich ein Plädoyer für Arigona Zogaj & Familie. Die wollen Österreicher werden und sich neu erfinden, wie die Jukics.

Und weil Österreich (und nicht wie die Schweiz und auch nicht wie das Konstrukt, das die neue deutsche rechtsliberale Machtelite im Kopf hat) ein Einwanderungsland ist, das egalitäre Behandlung verspricht, ist ein Weg jenseits der bei den sprachlichen Nachbarn aufpoppenden Verengung der Gesellschaft möglich.

Bei uns gibt es zwar keine Diskussionskultur (weshalb die StudentInnen dann tun mussten, was sie taten), aber Hoffnung durch Handeln.