Erstellt am: 8. 11. 2009 - 21:54 Uhr
Fußball-Journal '09-103.
Völlig off-topic, aber weil es gerade nebenbei abläuft: meine aktuelle Lieblingsmannschaft, die fabulöse Schweizer U17, wirft nach Siegen gegen Brasilien, Mexiko und Japan im Achtelfinale die guten jungen Deutschen, jetzt eben im Viertelfinale die tollen jungen Italiener raus. Ich hoffe auf ein WM-Finale gegen Spanien oder Gastgeber Nigeria!
Es ist nicht so, dass in Zeiten eines Teamchefs auf der Pequod, einer deutlichen internationalen Schwäche-Phase und einer heimischen Meisterschaft auf dem Niveau des aktuellen Wetters, alles für eine aktuelle Abrechnung aufgelegt wäre.
Schuld daran ist der deutsche Krisen-Nachbar Bayern München. Dort schwächelt man auf hohem Niveau und vermag das Anspruchsdenken der alten Gutsherrengarde nicht mit den Anforderungen des modernen Spiels zu verbinden. Das bedingt zum Beispiel auch den mitdenkenden Spieler.
Dass just der Prototyp dessen, Franz Beckenbauer (der anlässlich der WM 1974, als es nicht lief, die Teamführung an sich riss, den Trainer entmachtete und ab der zweiten Hälfte des Turniers Aufstellung und Taktik selber besorgte) den einzigen Mitdenker des aktuellen Teams abstraft, zeigt nur, was die Verblendung des Alters nach sich zieht.
Die Wahrheit kostet 50.000 Euro
Lahm im OT:
Vereine wie Manchester oder Barcelona geben ein System vor - und dann kauft man Personal für dieses System. Wir haben zum Beispiel Arjen Robben geholt, weil er ein sehr guter Spieler ist. Aber wir haben ihn nicht geholt, weil wir gesagt haben: Okay, wir spielen jetzt künftig im 4-3-3-System. So etwas gibt es bei uns nicht: Dass der Verein etwas vorgibt und alles darauf aufgebaut wird.
Man sagt, okay, wir spielen jetzt 4-3-3 in den nächsten Jahren, und dann überlege ich: Welche drei Spieler hole ich dafür im zentralen Mittelfeld? Die zwei offensiven haben wir mit Sicherheit mit Ribéry und Robben, und einen richtigen Stürmer, der vorne drin ist, haben wir auch. Sogar mehrere.
Der Verein muss sagen, wenn ein Trainer kommt: So spielen wir. Bei Barcelona kommt doch keiner mehr auf die Idee, dass sie 4-4-2 spielen. Der FC Barcelona ist 4-3-3 - das ist einfach so! Wir dagegen haben jetzt viele Spieler, für die es in einem 4-3-3, das unser Trainer gerne spielen möchte, gar keine Position mehr gibt.
Zum Beispiel unsere Stürmer. Wir haben wirklich gute Stürmer - aber beim 4-3-3 sitzen zwei, drei immer auf der Bank. Wenn ich einen Mario Gomez kaufe, muss ich sagen: Okay, dann spielen wir mit zwei Spitzen. Und wir haben ja auch in der gesamten Vorbereitung nur 4-4-2 gespielt. Und dann kommt plötzlich Robben, ein toller Spieler, der zu uns passt - und der am liebsten im 4-3-3 spielt.
Philipp Lahm hatte in der Süddeutschen ein argumentativ blendendes Interview gegeben, mit Analysen, die ihresgleichen suchen und auch die Probleme des Poser-Clubs ganz klar ansprechen.
Die wichtigsten Zitate daraus stehen nebenan.
Nun wurde, den Usancen der Altherren-Dynastie in München folgend, dieser Mut Lahms zur klaren und vorwurfslosen Ansprache der Problemzonen nicht nur nicht belobt und seine Anregungen diskutiert, sondern sofort und hirnlos abgestraft.
Mitdenken, richtiges Analysieren und den Überblick bewahren bringen in Fußball-Europa also 50.000 Euro Miese ein.
Nun ist das natürlich ein Witz.
Aber es wird wenigstens thematisiert.
Wurde es auch vor Lahms direkter An/Aussage - in den Fachmedien. Jetzt gibt es entsprechend mehr Diskussion (hier oder auch hier und hier in einer Sammlung der tollen Web-Site indirekter-freistoss.)
Jetzt stellen wir uns das einmal in Österreich vor, wo im alltäglichen Umgang zwischen Medien, Spielern und Trainern Sätze, wie sie Lahm da locker (und richtig) an- und ausspricht, geradezu verboten sind.
Weil nämlich bei der Erwähnung von Worten wie "System" oder "Taktik", oder beim Ansprechen von Zahlenfolgen wie 4-4-2 oder 4-3-3 die Pacults dieser Liga ihr Zitronen-G'sichterl aufsetzen und sich dieser Debatte mit dem dezenten Hinweis, dass sie über diese Geheimwissenschaften nicht mit Ahnungslosen (Journalisten, auch Spieler sind oft gemeint) sprechen würden, entledigen.
Natürlich ist das ein Schmäh.
Selbstverständlich beschäftigen sich die heimischen Coaches deutlich zu wenig mit diesen zentralen Fragen des Spiels.
Natürlich ist all das keine Geheimwissenschaft, sondern (gläserne Gesellschaft, medial voll durchleuchteter Fußball, gnadenlos ausgewertete Spiele, Datenbanken für jeden Anspruch) jedem, der guten Willens ist, zugänglich.
Selbstverständlich hinkt man in der Bundesliga noch recht krass hinterher, nützt man die durchaus bereitgestellte technische Infrastruktur einfach noch nicht aus.
Witzigerweise verhält sich die altvattrische, analoge Nomenklatura, die aktuell den heimischen Fußball in den wichtigsten Positionen besetzt hält, ziemlich genauso, wie es die Vertreter der Holzmedien gegenüber der Medien-Konvergenz oder die flächendeckend versagenden Politiker alten Stils den neuen demokratiepolitischen Herausforderungen (aktuell in der Uni-Debatte deutlich vorgeführt) gegenüber tun: defensiv, alles aus Prinzip ablehnend und doof findend, technologiefeindlich, innovationsresistent, starr, steif und stur, constantiniesk.
Würde ein Lahm seine (logischen und jedem nachvollziehbaren Gedanken) einem Pacult mitteilen wollen - der tät ihn unter schlimmen Worten aus der Kabine oder dem Büro jagen.
In Deutschland führt ein Diskurs über Strategie und Philosophie wenigstens noch zu einer Strafe, einem Wickel und damit zu einer weiteren Diskussion; in Österreich findet derlei erst gar nicht statt.
Österreichisches Kopfschütteln
Dabei bräuchte es eine solche Diskussion wie einen Bissen Brot.
Es reicht, sich anzuschauen, was z.B. heute bei LASK gegen Rapid passiert ist, wie dort eine inexistente Philosophie von wirren System-Umstellungen begleitet wurde, ein Kopfschüttel-Aktion die andere ablöst.
Und dieses Beispiel steht jetzt wirklich nur als pars pro toto da.
Der LASK hat's letztlich schon im Vorfeld vergeigt.
Man hatte in der Defensive seine Probleme, allerdings funktioniert die Offense herausragend - und für ein Jahr des Aufbaus, in dem man sich im Mittelfeld stabilisieren soll (nachdem die Linzer ja letzte Saison mit Lindenberger und Krankl kräftig um den Abstieg mitspielten), ist das eigentlich eh okay.
Weil sich Neo-Coach Matthias Hamann aber wohl schon zu lange in Österreich befindet und sich der, vorsichtig gesagt, seltsamen Einstellung des Familien-Unternehmens Reichel angepasst hat, wurde der einzige Part der Defensive, der bislang recht klaglos funktioniert hatte, erneuert: der Tormann.
Die Argumentation, dass ein Dirigent von hintenheraus eine unrunde Abwehr (sie wurde im Vergleich zum Vorjahr bekanntlich komplett ausgetauscht) weiterbringt, klingt wie eine Ausrede für die Unruhe, die entsteht, wenn man das Herz der Defensive, die aufeinander eingespielte Zentrale von Tormann und Innenverteidigung mutwillig zerreißt.
Bezeichnenderweise wurde der LASK für seine unbedachte Aktion (so sehr ich Jürgen Macho mag und einen Job gewünscht habe!) sofort bestraft: nach 17 Sekunden segelte er an einem Kavlak-Cross vorbei und das Match begann bei 0 zu 1.
Wer mir ausrechnet, wie oft ich dieses Problem allein heuer im Fußball-Journal 09 schon angesprochen habe, wird zu einem Mittagessen in die Funkhaus-Kantine eingeladen!
Wieder und wieder: das Hofmann-Loch auf der rechten Seite.
Dazu hatte Hamann die Taktik von seinem offensiven 4-4-2 mit Raute und drei attackierenden Mittelfeldspielern auf ein 4-4-1-1 umgestellt, mit deutlich defensiv orientierteren Akteuren. vor allem außen. Natürlich kann man zwischen diesen beiden Systemen leichter switchen, als zwischen den beiden Bayern-Varianten - die Frage nach der Sinnhaftigkeit mitten in einer Zwischensaison, bei der es drum geht, das Publikum wieder zurückzuholen, auf die Beißer-Variante zurückzustellen, stellt sich trotzdem massiv.
Rapid seinerseits reagierte auf die irgendwie doch peinliche Heim-Niederlage gegen Hapoel pacultisch: alles retour zum Gewohnten.
Also lief Rapid wieder - und wider besseres Wissen aller Beteiligter - mit dem Hofmann-Loch auf, also einem linkslastigen 4-4-2, mit niemandem rechts, Hofmann wie immer in der Zentrale und Kavlak links. Von dort, von links wurden die wichtigsten Szenen eingeleitet (von Thonhofer und Kavlak), von rechts, wo Verteidiger Dober allein auf weiter Flur zwei Linzer gegen sich hat (weil der nominell dort agierende Hofmann halt macht, was er will - mit Unterstützung des Coaches) kam nicht nur nichts, auch das erste Gegentor fiel (natürlich) über diese Seite.
Reaktion Pacult: Dober abstrafen und rausnehmen.
Nun ist jedem, der was von Management und Menschenführung versteht, klar, was wirklich passieren hätte müssen: eine Selbstbestrafung Pacults wegen (wiederholter) Fehlaufstellung. Sich wegen des von ihm zu verantwortenden Unfugs der Nicht-Besetzung einer rechten Flanke an einem Spieler abzuputzen, mit Andreas Dober da mittlerweile einen regelmäßigen Sündenbock aufgebaut zu haben, ist unwürdig.
Dreier-Abwehr, Schnitzelsemmel-Fußball
Reaktion des wirklichen Lebens (Motto: kleine Sünden bestraft der Herr sofort): Rapid bekommt noch zwei Tore.
Dann aber wieder: der LASK.
Nach Rapids Anschlusstreffer und der Hinausstellung von Piermayr greift Hamann zu einer wahrlich bezeichnenden Maßnahme: er nimmt seinen einzigen Stürmer raus und stellt auf ein 4-5-0 (!) um. Diese beklemmende Strategie hat Frenk Schinkels bereits in einigen Spielen seiner Kärntner umgesetzt, um sich damit auf einen tollen letzten Platz zu setzen - großes Kino also, Selbstaufgabe galore.
Reaktion Rapid: Pacult kann endlich das aufs Feld bringen, was er wirklich will - eine Dreier-Abwehr.
Die würde ihm ein 3-5-2, das er im Herzen spielen möchte (weil er drin aufgewachsen ist, damals in der Schnitzelsemmel-Zeit, der schönen nostalgisch verklärten Vergangenheit), nämlich bringen.
Leider steht dem die mittlerweile zum selbstverständlichen Dogma gewordene Ansicht, dass die Vierer-Abwehr die besten Resultate bringt, entgegen. Eine Einsicht, an der der österreichische Fußball lange Jahre (die den verheerenden Rückfall in den 90ern mitverschuldete) vorbeileben konnte, die sich aber jetzt durchgesetzt hat.
Zurecht.
Aber nicht, weil die aktuellen Coaches (die das als Spieler großteils nie praktiziert haben) so wollen und gut finden, sondern weil sie sich nicht über den altmodischen Blödsinn drübertrauen. Weil sie wissen, dass sie dann ausgelacht werden.
Angst vor schlimmen Worten wie "Philosophie".
Nur: wer nicht mit Herz und Hirn hinter einer Sache, einer Philosophie steht, kann sie nie verinnerlichen, geschweige denn kapieren.
Mattersburgs Franz Lederer etwa spielt diese Saison (endlich, nach Jahren des sinnlosen Widerstands) mit einer Viererabwehr - kapiert hat er sie aber noch nicht wirklich. Er stellt etwa gern die Lulatsche Pauschenwein und Pöllhuber nach außen. Ich denke, dass erst die Arbeit mit dem jungen Außenverteidiger-Supertalent Lukas Rath ihn zu einer echten Einsicht des Herzens treiben könnte.
Etwas, was ich von Constantini, der sowas wie Außenverteidiger ja seit seinem Amtsantritt als Teamchef verweigert und zerstören will, nicht mehr zutraue.
Weil die von Lahm angesprochene Philosophie, die ein Verein braucht, um sich Spieler zu holen, die auch passen (Positivbeispiele zuletzt: die Austria, auch Ried...) in Österreich nicht existiert, weil die aktuell herrschende 80er-Partie sich den modernen Usancen nur pro forma, aber nicht mit vollem Einsatz annähert, kommt so ein Ballerwatsch dabei raus.
Zum Beispiel eine Rapid-Aufstellung, in der ein Coach ein 3-5-2 denkt, sich dann aber nur ein 4-4-2 traut, davon aber das erwartet, was nur ein 4-5-2 (und richtig, das ist einer zuviel!) leisten könnte.
Das ist das Dilemma.
Die letzten 20 Minuten warf Pacult jedenfalls ein 3-3-4 ins Treffen: Dreier-Abwehr (Ballwegputzer der Marke Patocka), ein Dreier-Mittelfeld, zwei echte offensive Flügel und zwei Strafraum-Stürmer. Damit schaffte er noch den Ausgleich; immerhin.
Pacult! Outen sie sich Ihnen endlich!
Also: warum so versteckt?
Warum so mut- und blutleer?
Wenn er ein 3-5-2 mit Herz spielen will, dann soll er!
Und dann darf er auf Jammerer (wie sicher auch mich), die ihm altmodisches Gehabe vorwerfen, einen großen Krapfen dingsen!
Ist mir wurscht, solange dieses System klug eingesetzt wird! Weil es allemal besser ist, als ein ungeliebtes System halbherzig, unvollkommen, widerwillig und mürrisch zu exekutieren.
Dieser Mut zur Wahrheit würde vielleicht aus dem mittlerweile an ein einziges großes Magengeschwür auf zwei Beinen gemahnenden Peter Pacult wieder einen Menschen machen.
Bloß: alles nur Fantasien.
Wir sind in Österreich, in Fußball-Österreich, wo Leute wie Philipp Lahm, die in Systemen denken und reden können, die analytisch denken, von den vielen beteiligten Analphabeten (und denen, die vom Analphabetismus der Masse und der Szene profitieren) sofort als einweisungswürdig eingestuft werden.
Wir befinden uns in einem verzopft-stockkonservativen Territorium, in dem immer noch der Geist des "Mochmaso wiamas immagmocht hom!" weht, in dem die Gutwilligen und Heißherzigen sich noch in einer erschreckenden Minderzahl befinden und noch Jahre brauchen werden, um die eigentlich bereits recht nahen internationalen Standards wirklich zu erreichen.