Erstellt am: 7. 11. 2009 - 12:24 Uhr
Vampire in New York
Der Mexikaner Guillermo del Toro ist einer der einflussreichsten Regisseure des fantastischen Kinos: sein romantisches Gruselmärchen "Pan’s Labyrinth" wird 2007 sogar mit einem Oscar ausgezeichnet. Del Toros Welten entwickeln sich freilich nicht im luftleeren Raum: der 45-jährige ist seit seiner Kindheit ein begeisterter Leser, nennt etwa Emily Brontë's "Wuthering Heights" als maßgebliche Inspirationsquelle seines Schaffens, bereitet gerade eine Verfilmung von Tolkiens "The Hobbit" vor, plant eine Adaption von Mary Shelleys "Frankenstein"– und legt jetzt mit "Die Saat/The Strain" sein Debüt als Schriftsteller vor. Fans des Regisseurs dürfen schon mal jubilieren: der Horrorroman, der als erster Teil einer Trilogie gedacht ist, vertraut auf die erzählerischen Stärken des Mexikaners, also auf jene magische Mischkulanz aus Historie und Fantasie, die seine Filme in den Olymp des fantastischen Kinos katapultiert hat.
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Gemeinsam mit seinem Ko-Autor, dem Amerikaner Chuck Hogan, erzählt er in "Die Saat" von einem mutmaßlichen Angriff auf die Vereinigten Staaten: die Attentäter sind aber keine Terroristen, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Der Flug 753 von Berlin nach New York landet ordnungsgemäß am JFK-Flughafen: aber kurz nachdem die Räder den Boden berühren, bleibt die Maschine stehen.
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Monster, Mythen, Märchen
I think children and monster could live together in peace.
Guillermo Del Toro
Del Toros Monster wachsen aus Märchen und Mythen heraus: kein Wunder also, dass er seinen ersten Roman mit einer "bubbe meise", einer Großmuttergeschichte eröffnet. Irgendwo in Osteuropa, zur Mitte der 1920er-Jahre hin: Der Junge Abraham Setrakian hört zum ersten Mal von Jusef Sardu, dem groß gewachsenen Nobelmann, der als einziger Überlebender von einem Jagdausflug nach Rumänien zurückkehrt. Sofort verschanzt er sich in seinem Zimmer. Es gibt nur wenige, die ihn seitdem gesehen haben. Als die ersten Kinder aus dem Dorf verschwinden, kommen Gerüchte auf: dass Jusef, der Gigant, mit seinem Gehstock, den ein Wolfskopf ziert (die Sardus essen schon seit Generationen frisches Wolfsfleisch), durch die Gassen zieht, bis er ein taugliches, jugendliches Opfer gefunden hat. Pick - Pick - Pick. Mit dem Stock klopft er an. Weiter erzählt ihm seine Großmutter die Geschichte nicht. Sie wollte ihn nur unterhalten, bis er seinen Borschtsch aufgegessen hatte.
Viele Jahrzehnte später sitzt der alt gewordene Abraham Setrakian in seinem Antiquariat in Spanish Harlem, blickt auf die Fernsehbilder der "toten" Boeing und weiß, dass Jusef Sardu, das Gespenst seiner Kindheit, zurückgekehrt ist:
Seine deformierten Hände begannen zu schmerzen. Was er da sah, war kein Omen – es war die Tat selbst. Das, worauf er gewartet hatte. Worauf er sich vorbereitet hatte. Sein ganzes Leben lang. Bis jetzt. Die Erleichterung, die er anfangs verspürt hatte, dass er noch eine allerletzte Chance auf Rache erhielt -, wurde von einer Welle reiner Angst weggespült. Worte verließen seinen Mund mit einem Schwall Dampf: Er ist hier ... Er ist hier ...
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Präludium
Er ist in New York City. Angekommen mit einer Boeing, die jetzt dunkel auf der Rollbahn steht. Bis auf vier Personen sind alle Passagiere unter ungeklärten Umständen verstorben. Dr. Ephraim Goodweather ist der Chef der US-Seuchenschutzbehörde und vermutet zuerst den Ausbruch eines unbekannten Virus, er erwägt die Möglichkeit eines bioterroristischen Anschlags. Aber schon in der folgenden Nacht, der "ersten" Nacht, werden seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen: die Toten erwachen wieder zum Leben, verschwinden aus den Leichenhallen und kehren zu ihren Familien zurück. Aber sie sind nicht mehr menschlich, sie sind mutiert.
Der Kapitän stieß einen zischenden Laut aus, die schwarzen Augen völlig leer. Und dann begann er zu lächeln. Zumindest schien es so, weil er die entsprechenden Gesichtsmuskeln benutzte – nur dass sich sein Mund weiter und weiter öffnete und sich etwas Rosafarbenes, Fleischiges herausschlängelte. Es konnte unmöglich seine Zunge sein. Es war länger, muskulöser, verästelter, es drehte und wand sich. Als hätte Redfern einen lebendigen Tintenfisch in den Mund genommen, der nun verzweifelt um sich schlug.
Wissenschaft und Aberglaube
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Das Autoren-Duo Del Toro/Hogan entwirft in "Die Saat" ein packendes Präludium für den Horror, der in den folgenden Bänden kommen mag. Ankerpunkte der Erzählung sind zwei scheinbar gegensätzliche Figuren: der unter der Scheidung von seiner Frau und dem Sorgerechtsstreit um seinen elfjährigen Sohn gebeutelte Wissenschaftler Eph Goodweather versucht, den Geschehnissen mit Obduktionen und Laboranalysen auf den Grund zu gehen. Bis er den alten Antiquar Abraham Setrakian trifft: sein Wissen ist aus jahrzehntelangen Forschungen über jüdischen Mystizismus und okkulte Phänomene erwachsen. Im Keller seines Ladens hortet er Silberdolche und andere Waffen, mit denen er glaubt, der Bedrohung Herr werden zu können.
Denn "Die Saat" lässt sich nicht mit Knoblauchzehen oder Kruzifixen erledigen. Wissenschaft und Aberglaube müssen sich vereinigen, damit die Menschheit eine Überlebenschance hat. Die Autoren schreiben flüssig und einfach, ohne ins Beliebige abzugleiten. Nach und nach formen sich die Hauptthemen des Romans heraus, der als erster Teil einer Trilogie auch die Stimmung etablieren muss. "Die Saat" ist einer der besten fantastischen Romane des Jahres. Abgründig, schockierend und romantisch – eine Großmuttergeschichte für das neue Jahrtausend.