Erstellt am: 4. 11. 2009 - 14:26 Uhr
Vlog #13: Willkommen in der Unwirklichkeit!
Ich bin eisern. Für gewöhnlich. Ich bleibe sitzen bis zum Ende, selbst wenn mir ein Film nicht gefällt. Es ist ein immenser Kraftaufwand, aufzustehen und zu gehen. Sich von der erzählten Geschichte, der Welt, die um einen gesponnen wird, loszureißen. Erschwerend kommt die Variable des Sitzplatzes hinzu. Im Gartenbaukino aus der Mitte zu flüchten, ist praktisch unmöglich. Weil die Reihen so eng gestellt sind, dass ich meinen Hintern oder meinen Schritt an der Nase der anderen Zuschauer vorbei führen muss, dass ich Menschen auf die Füße, auf die Taschen, auf mitgebrachte Lebensmittel steige. Ich versuche, die verärgerten Gesichter der Anderen zu ignorieren. Es gelingt mir nicht. Dann fühle ich mich schlecht, wie ein Deserteur, der seine Kameraden in einer ausweglosen Situation sitzen lässt, während er sich selbst daraus befreit hat.
Es reicht also nicht, dass ein Film schlecht ist, damit ich gehe. Er muss mich verärgern. Bei der diesjährigen Viennale ist das glücklicherweise noch nicht passiert. Ich wollte eigentlich aus Patric Chihas aufgeblähtem, ereignis- und inhaltslosem "Domaine" flüchten, bin aber dann doch sitzen geblieben. Für Béatrice Dalle. Weil ich ihr verfallen bin, weil ich sie am Tag darauf zum Interview treffen durfte. Aber meine Gedanken, die waren nicht beim Film. Ich habe dicht gemacht, schon nach zwanzig Minuten. Ich überlege mein Leben im Kino, ordne meine Termine, meine Gefühle.
Viennale
Bei anderen Festivals, die nicht wie die Viennale eine Art von Hitparade sind, gehe ich häufiger. Man muss sich nichts vormachen: es gibt Filme, die nicht zu oder mit mir sprechen. Filme, mit denen ich mich nicht gut verstehe, die mir unsympathisch sind, die ich am liebsten nie wieder sehen würde. Alejandro Gonzalez Inarritus "Babel" war so ein Fall: die Essenz von Hollywoods Bigotterie, laut dem unerträglichen Regisseur ein „Film aus der dritten Welt“, aber mit Star-Besetzung. Er will mir die Welt erklären. Ich lehne dankend ab. Aus Paul Haggis’ "Crash" gehe ich ebenfalls raus. Filme mit falschem gutem Gewissen finde ich Ekel erregend. Ein Charity-Hurenstadel im Kino. Missstände werden aufgegriffen und ausgeschlachtet, vor allem für den eigenen Imagegewinn von Studio, Regisseur und Schauspielern. Was soll man machen? Die Welt ist eben so.
Die neue Unwirklichkeit
"Millennial Unreality" nennt der Amerikaner Michael Barrett in einem aufschlussreichen Text in der aktuellen Ausgabe meines Lieblingsmagazins Video Watchdog eine aktuelle Bewegung im US-Film: nämlich, dass sich mehr und mehr Erzählungen im Kino der Unwirklichkeit annehmen. In Harry Potter verschränken sich zwei Welten, in Narnia steigt man durch einen Wandschrank in eine Wunderwelt, in der Matrix träumen wir unsere Leben wie in der Truman Show. In The Sixth Sense sind wir schon tot. Wir misstrauen der Realität, sind überzeugt, dass es nur jemanden geben muss, der den Vorhang zurück zieht – und schon sieht man The Ugly Truth.
www.tapenoisediary.com
Wie der Chefredakteur des Video Watchdog, Tim Lucas, in seinem Editorial anmerkt, ist die einzige Leerstelle, die Barretts spannender Text lässt, jene der Remakes, der Rückgriffe auf vergangene Geschichten. Nicht nur machen sie einen großen Teil des aktuellen Hollywood-Outputs aus, nein, sie lassen auch mein persönliches Verhältnis zur Wirklichkeit mutieren. Ich erinnere mich beispielsweise noch sehr gut an mein erstes Mal mit Freddy Krueger. Ein kleiner Röhrenfernseher wirft gespenstische Lichtblitze durch meine Dunkelkammer called Jugendzimmer. Der mit Industriegeräuschen angefüllte Score hämmert mir die Wahrheit ins Hirn, ich sehe, wie sich ein Mann einen Handschuh mit Messerfingern anlegt, sehe ein blondes Mädchen im Nachtkleid, das wie in einer antiken Höllenvision durch einen dunklen, feuchten Kanal läuft, in dem eine Ziege steht. Omen des Bösen. Die Rohre im Keller dampfen, die Maschine läuft: irgendwo dahinter lauert das Monstrum, zieht seine Krallen über das Metall.
Ein Albtraum als Erinnerung
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Wes Cravens "A Nightmare On Elm Street" (1984) ist ein Teil von mir geworden. Film IST. Erinnerung. Nicht nur kenne ich das Setting, die Atmosphäre, die Geschichte. Ich verbinde es mit einem Fächer an Gefühlen. Heute noch, wenn ich in einen Keller gehe, Rohre sehe, wenn mir die Gerüche von damals in die Nase steigen, habe ich die Bilder unweigerlich vor mir. Träume. Die der Nacht entschweben. In wenigen Monaten wird das Remake von "A Nightmare On Elm Street" in den amerikanischen Kinos anlaufen. Der Trailer macht klar, worum es geht: das Monstrum soll glaubwürdig werden. Man sieht, wie der Kindermörder Fred Krueger in eine alte Fabrik gescheucht und von aufgebrachten Eltern mit Benzin übergossen wird, man sieht, wie er in Flammen aufgeht. Hollywood verändert unsere Wirklichkeit: Christopher Nolans "Batman Begins" kredenzt mir eine glaubwürdige und nachvollziehbare Erklärung für Bruce Waynes übermenschliche Kräfte, die nicht übermenschlich sind, sondern die sich in einem Kloster im Training mit Kampfmönchen heraus gebildet haben. Batman ist auch nur ein Mensch. Das Märchen, der Traum wird zur Wirklichkeit. Danke, Hollywood.
www.filmseite.net
Black Dynamite
Ich gehe. Nach dreißig Minuten "Black Dynamite" verlasse ich das Gartenbaukino. Rein gegangen bin ich ohne Erwartungen, ohne Vorurteile. Ich mag Blaxploitation-Filme, vor allem Larry Cohens großartigen "Black Caesar" mit Fred Williamson in einer seiner größten Rollen. Gestern fühle ich mich vergewaltigt. Meine Erinnerungen, meine Gefühle werden mit Füßen getreten. Ich werde lächerlich gemacht, da ich irgendwann mal etwas Ernsthaftes mit diesem Subgenre verbunden habe. Ich weiß, ich kann jetzt nicht für den ganzen Film sprechen. Eigentlich ist es unfair, dass ich überhaupt darüber schreibe. Ich mache es trotzdem.
www.filmbuffonline.com
Die Blaxploitation ist progressiv und reaktionär gleichzeitig. Progressiv, da farbige Darsteller jene Rollen übernehmen, die üblicherweise von Weißen gespielt worden sind. Reaktionär, da saubere Menschen gegen Unsaubere, Drogendealer, Prostituierte und andere unmoralische Subjekte in den Kampf ziehen. Das macht den Reiz dieser Filme aus. Gemeinsam mit den frenetischen Schnitten und Zooms, die sich rhythmisch absetzen von früheren urbanen Entwürfen und den jeweiligen Städten einen neuen, einen frischen Groove einimpfen.
Regisseur Scott Sanders interessiert sich in „Black Dynamite“ nicht dafür, das Genre upzudaten. Er wütet durch die damaligen Inszenierungen, kopiert und überhöht sie ins Absurde. Die Frisuren, die One-Liner, die Dialoge, die Figuren, die Musik – alles erscheint mir wie eine schlechte Cover-Version, gemacht für ein Publikum, das mit Blaxploitation nichts verbindet.
Viennale
Mehr Kopien, weniger Kopien
Insofern kann ich mir durchaus vorstellen, dass „Black Dynamite“ Zuschauer begeistert. Das finde ich auch nicht schlimm. Ich akzeptiere, dass das solide Remake von The "Last House on the Left" eine neue Öffentlichkeit schaffen kann für einen Stoff, der Anfang der Siebziger Jahre als Bauchreaktion auf die desaströse psychische Beschaffenheit der USA entstanden ist. Ideologisch ist der Film notwendigerweise korrupt, wenn er das Damals im Heute einfach nachbaut. Film entsteht nicht im luftleeren Raum: im Kino pulsiert auch ein Bildergedächtnis der Welt. Die Stadtbilder des Blaxploitation-Kinos, die harte, ungnädige Sicht auf die Welt kann man nicht so ohne weiteres ins Heute beamen. Es wird zur Mimikry, zum kraftlosen Nachäffen.
Ich bin sauer und verärgert, als ich gestern Nacht aus dem Gartenbaukino komme. Wieso muss so etwas auf der Viennale laufen? Ein Film wie gemacht für das Multiplex. Ahja. Stimmt. Er kommt gar nicht ins Kino. Verrückte Welt. In einer besseren Welt würden die Studios nicht Millionen von Dollars in Remakes stecken, sie würden sich zuerst einmal um die ordentliche Konservierung, Vermittlung und Veröffentlichung ihrer eigenen Geschichte abseits von kanonisierten Klassikern kümmern.
Für DVD-Veröffentlichungen werden die digitalisierten Filme aufpoliert: neue Archivkopien gerade von Genrefilmen werden aber selten gezogen. Die Kopie von Wes Cravens "A Nightmare On Elm Street", die ich vor einem Monat in Sitges gesehen habe, war rotstichig und in einem schlechten Zustand. Aber wer braucht noch das Original, wenn in wenigen Monaten das Remake in die Kinos kommt? Ich persönlich hätte mich sehr gefreut, hätte die Viennale zumindest noch einen Blaxploitation-Klassiker zu "Black Dynamite" hinzu programmiert. Um den Leuten nicht nur die Kopie, sondern auch das Original zu zeigen. Vielleicht hätten sich dann einige wieder für dieses schöne Subgenre begeistert. Vielleicht wäre ihnen wie mir das Lachen im Hals stecken geblieben.