Erstellt am: 2. 11. 2009 - 15:51 Uhr
Vlog #11: Der Traum vom Leben
Am Anfang war es noch gar nicht so schlimm. Ich stehe sogar noch im Foyer des Metro Kino, plaudere mit einem Freund, reiße die Arme nach oben und schreie: Meisterwerk! Draußen schieben sich Hunderte Menschen an mir vorbei. Niemand bemerkt meine Traurigkeit, niemand von ihnen sieht, dass in meinem Inneren gerade ein Kampf tobt. Ich bin aufgewühlt, beeile mich. In dieser kalten Welt wirken meine Gefühle außerirdisch. Die Köpfe hängen wie die Augenlider. Die U-Bahn ist ein Friedhof. Dann stehe ich im Fahrstuhl im Funkhaus; ich muss noch einen Beitrag für die nächste Woche vorbereiten, quetsche diese Arbeit zwischen zwei Viennale-Filme. Dann laufen sie los, die Tränen. Mehrere gleich, direkt in meinen Mund. Der Geschmack von Tränen ist mit nichts zu vergleichen.
Blutige Lippen
Gestern habe ich einen der schönsten Filme des Jahres gesehen. Die Geschichte einer alternden Drag Queen, hängend zwischen Welten, zwischen Mann und Frau, zwischen Traum und Wirklichkeit. Tonia ist ihr Name. Eine blonde Perücke umspielt ihr illusionsloses Gesicht. Sie weiß: ihre Zeit läuft ab. Schnell. Der Körper altert, das Publikum im Klub hat kein Interesse mehr an ihren perfekt einstudierten Nummern. Sie wollen junges, neues Fleisch. Wie das von Jenny, ihrer Kollegin, ihrer Kontrahentin. Spiegel überall und an den Wänden hängen Poster ihrer früheren, legendären Auftritte. Those were the days.
Viennale
Joao Pedro Rodrigues Morrer como um homem (To die like a man) hat nichts gemein mit dem leidigen Tuntenkabarett, das ich in so vielen anderen Filmen aushalten muss. Mit dem Ausstellen eines Manns in Frauenkleidern, mit dem Bier saufenden, grölenden Publikum, dass sich das "Monstrum" ansieht. Travestie-Show heißt es im Programm. Früher hätte man Freak-Show dazu gesagt. Nein, Rodrigues zeigt kein Publikum. Für ihn bedeutet Tonia die Welt. Zu Recht.
Heldentod
Rodrigues kommt aus Portugal. Morrer como um homem ist sein dritter Film. Schon in den ersten Minuten sitze ich ganz tief in meinen gemütlichen Sitz im Metro Kino: ein Kriegsfilm. Geschminkte Soldaten (auch hier: das Tarnen, das Verkleiden) schleichen mit angeschlagenen Waffen durch den Wald. Schatten umspielen ihre Gesichter, verdecken Körper, geben Gefühle frei. Zwei junge Männer setzen sich vom Rest der Kompanie ab: sie küssen sich, haben Sex, gegen einen Baumstamm gelehnt. Liebe im Krieg. Ein tiefes Stöhnen surrt durch die Stille der Nacht. Wie in einem Märchen stoßen sie mitten im Wald auf ein verwunschenes Haus: Maria Bakker lebt dort mit ihrer Freundin/Dienerin Paulinha. Die Soldaten, die eigentlich Buben sind, blicken auf die Männer, die eigentlich Frauen sind. Der eine erschießt den anderen: Er stirbt wie ein Mann. Den Heldentod.
Screen Daily
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Ein Heldentod, das bleibt Tonia verwehrt. Wie ihr so vieles verwehrt bleibt, da sie als biologischer Mann geboren wurde, aber eine Frau ist. Viel liegt hinter ihr: in ihrem Häuschen stehen Fotos aus einem früheren Leben, Bilder von ihrem Sohn, dem sie nie ein Vater sein konnte, der keine zwei Mütter haben wollte. Sie hat ihn verloren: er läuft davon. Tonia führt eine schwierige Beziehung mit dem jugendlichen Rosário: er zerstört seinen schönen Körper mit Heroin. Immer wieder findet Tonia ihn in der Gosse, nachdem er ihre Habseligkeiten für einen Schuss versetzt hat. Immer wieder verzeiht sie ihm, selbst wenn er sie mit einem Klappmesser bedroht, selbst wenn er sie auf den Boden wirft, mit Füßen tritt. Ihre Liebe ist bedingungslos: er ist Geliebter und Sohn für sie. Ein Ersatz für das Mehr, das es noch geben könnte.
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Leben, friss die Kunst!
Rodrigues filmt Tonia wie Fassbinder seine Figuren gefilmt hat: distanziert, theatralisch ausgeleuchtet, aber voller Empathie. Die Inszenierung drückt den Film weder in die eine noch in die andere Richtung, sie baut den Menschen eine neue Welt. So wie es nur das Kino kann. Tonia liebt die Natur: immer wieder streift sie durch Gewächshäuser, berührt Blumen, streichelt Bäume. Ihr Hund Agustina ist ihr engster Vertrauter. Im ewigen Grün wirkt sie nicht exotisch, außergewöhnlich, absonderlich: Tonia ist ein Teil der Umgebung, ein Teil der Schöpfung. Sie ist tief religiös, fragt oft den Herrgott um Unterstützung, Rat oder Vergebung. Aus ihrer Silikonbrust läuft eine eitrige Flüssigkeit, vermischt mit Blut. Ihr Körper nimmt das Künstliche nicht an, es vergiftet sie.
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Tonia will kein Geschöpf sein, keine Kunstfigur. Sie will eine natürliche Entsprechung ihres Gefühlszustands und findet sie nicht. Bei einem Ausflug in den Wald stoßen sie und Rosário auf das Haus von Frau Bakker und Paulinha. Wie Gloria Swanson in Billy Wilders „Sunset Blvd.“ atmet die mondäne Frau, die ein biologischer Mann ist, den Geist der Jahrhunderte durch ihren spitzen Mund. Jede Bewegung, jede Geste ist einstudiert, alles ist Drama und Show. Die Kunst frisst das Leben. Als Bakker beginnt, Paul Celan zu rezitieren, meint Tonia zu ersticken. Das ist es nicht, was sie will. Abgeschieden von allem, versteckt im Wald ein einsames, ein künstliches, ein Film-Leben zu leben. Nein. Aber davor wandert sie noch zwischen den Bäumen hindurch, mit den Anderen. Rodrigues baut atemberaubende Bilder für seine geliebten Figuren: im Kino errichtet er ihnen das Zuhause, das sie in der Wirklichkeit nicht haben dürfen. Wie in einem Märchen blicken sie auf den vollen, riesigen, falschen Mond – die Leinwand wird Rot, die Figuren sitzen auf einer Lichtung. Auf der Tonspur singt Baby Dee von "Jesus", vom "weeping". Ich kann nicht mehr. Tränen laufen im dunklen Saal über meine Wangen. Lange schon habe ich nichts so Schönes mehr gesehen: "Morrer como um homem" ist nicht sentimental oder gar rührend. Ich weine ob der mühelosen Anmut dieses Films.
TiFF
Die Travestie der Politik
Wenn man mit diesen Figuren reist, kann man leicht vergessen, dass man selbst auch keinen Platz findet in dieser Gesellschaft. Später an diesem Tag gehe ich ins Filmmuseum, um mir einen meiner Lieblingsfilme von einem meiner Lieblingsregisseure endlich auf der großen Leinwand anzusehen. In John Waters Camp-Wahnsinn "Hairspray" geht es auch um revolutionäre Kunst. Pop saves the world, wenn ein dickliches Mädchen eine WASP-Schlampe beim Wett-Tanzen aussticht und in den USA des Jahres 1963 für ein Ende der Segregation kämpft. Alle Träumer sind gleich: am Ende feiert die Utopie ein rauschendes Fest. "Hairspray" ist einer dieser Filme, nach dem man rausgehen und die Welt verändern will. Er füllt mich an, mit Energie und mit Wut. Über die in der Koalition ausgehandelte eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare: die grauen Herren und auftoupierten Damen des bürgerlich-konservativen Lagers, die Fekters und Prölls, zerstören meine Welt. Mit selbstgefälligem Gestus schwadronieren sie von der Gleichheit, die nichts mehr wert ist. Die Verschiedenheit interessiert sie nicht, die vor den Kameras ihre künstlichen Leben ausstellen und dann, wenn die Lichter ausgehen, sind wie alle anderen. Politiker sind Transvestiten: Sie verkleiden sich, tanzen für die Öffentlichkeit und wollen, dass ihr Publikum sie liebt.
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Die Politik der Travestie
Mehr über die eingetragenen Partnerschaft
Meine Tränen werden mehr und größer. Wie kann sich jemand anmaßen zu beurteilen, dass meine Liebe weniger Wert ist, als die von anderen. Ohne Feier, ohne Freude, soll ich meinen Freund, mit dem ich seit sechs Jahren zusammen bin, heiraten. Am besten im Besenkammerl. Schnell rein und wieder raus. Was beschwert’s ihr euch, schreit mir die Fekter nach. Jetzt habt ihr doch, was ihr immer schon wolltet. Die Bilder von „Hairspray“ tanzen im meinem Kopf. Die Utopie Film. Die Utopie im Film, ich will, ich muss sie in die Wirklichkeit holen. Wen soll ich anschreien? Mit wem soll ich argumentieren? Darüber wie grundlegend falsch all das ist. Wieso sieht niemand diese Heuchelei? Same but different. Später treffe ich meinen Freund, ganz demonstrativ gebe ich ihm die Hand und marschiere durch den ersten Bezirk. Öffentlichkeit. Ich will mich organisieren. Wer ist dabei? Mit erstem Jänner soll diese Quasi-Gleichstellung, die Standesamts-Travestie passieren. Ich bin dafür alle Ämter in dieser Stadt zu besetzen. In mir pocht das Kino.
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Tonia stirbt wie ein Mann. Im Anzug liegt sie im offenen Grab. Ohne Perücke. Ohne Lippenstift. Ohne High Heels. Sie ruht neben Rosário, der sich am Strand seinen letzten, besten Schuss gesetzt hat. Nur die Kamera sieht das, was über den Grabsteinen geschieht: Tonia steht in ihrem schönsten Paillettenkleid, mit Kopfschmuck über den Sterblichen und singt ein trauriges Lied. In der Geisterwelt wird alles besser. We shall overcome.