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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

1. 11. 2009 - 16:00

Vlog #10: Tanz der Toten

Das Kino braucht seine Monster: ein Plädoyer für den Mitternachtsfilm

Wäre ich nicht auf der Viennale gewesen, wäre ich gestern vermutlich auf einen Friedhof gegangen. Hätte mich allein irgendwo hingestellt. Und gelauscht. Ich mag diese Jahreszeit weit mehr als den Sommer. Das diffuse Licht, das nicht wirklich erhellt, das eher verbirgt und Schatten fördert, spielt mir zu. Der Nebel ist mein Freund. Üblicherweise bin ich nicht sonderlich empfänglich für übernatürliche Theorien, für das Mehr, das so gern behauptet wird. Aber das Kino und die Geisterwelt haben sehr viel gemeinsam: beides sind Sinnestäuschungen, sind da und nicht da gleichzeitig, bringen einen in Kontakt mit einer anderen, einer geheimnisvollen Welt, in der die Schatten mindestens ebenso wichtig sind wie das Licht.

Friedhof

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Friedhof im Herbst

Ich bin kein Konsumopfer, finde aber Halloween-Kürbisse reizvoll. Als ich noch in Tirol gelebt habe, vor fast zehn Jahren, da habe ich mal einen großen Feldkürbis ausgehöhlt. Es hat etwas Barbarisches an sich, wenn man das Gemüse, auf das man später ein Gesicht malen wird, am Stiel aufschneidet. Ich bin zwanzig und mache Geräusche, ganz so als wäre ich der Re-Animator und würde einen menschlichen Schädel aufsägen. Ich öffne ihn. Es stinkt nach faulen Eiern, nassen Socken. Wie rieche ich von Innen? Ich will es nicht wissen.

Bis zum Ellenbogen passt mein Arm in das orange Gefäß, ich wühle mit meinen Fingern im Schleim herum und liebe die Geräusche. Handvoll über Handvoll hole ich aus dem Kürbiskopf heraus - ich raube ihm sein Innenleben, seine Seele. Harhar. Dann eine Kerze. Leuchte, Jack, leuchte. Ich setze mich ein Stück weit weg und betrachte mein Kunstwerk, meine Leichenskulptur. Der ausgehöhlte Schädel leuchtet. Orange und schön. Ich denke an Freitag, der 13. Teil 2, in dem Jason Voorhees den abgeschlagenen Kopf seiner Mutter in einer kleinen Holzhütte neben einigen Kerzen aufstellt.

Kürbis

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Heath Ledger und Michael Jackson

Joker,

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A new Halloween favourite: Heath Ledger als Joker

Meine diffusen, beängstigenden, aber echten Gefühle finden keine Entsprechung, als ich gestern Nacht durch das kalte Wien spaziere. Diese Stadt ist prädestiniert für einen Abend wie diesen: aber alles, was ich sehe ist eine Gruppe von kostümierten Trunkenbolden. Heath Ledger und der Sensenmann saufen im Bermuda-Dreieck: ich lache in mich hinein. That’s Showbusiness. Insgeheim wundere ich mich, dass ich keinen Michael Jackson sehe. Moonwalk statt Zombie-Walk. Das ist alles so billig. Wie Weihnachten, das ich für seine Ruhe schätze. Jeder andere scheint aber dem Diktum der lauten, schrillen Werbung folgen zu wollen. Man brüllt mir schlechte Lieder ins Ohr, stopft mich mit elendigen Süßigkeiten voll. Ich will in meinem Elternhaus in Tirol sitzen, raus gehen um Mitternacht, durch ein zugeschneites Feld, den Schnee knistern hören. Sonst nichts. Zu Halloween, Samhain oder wie immer man es nennen mag, will ich in Kontakt mit den Toten treten, will ich Zeit für die haben, die mich verlassen haben. Es sind einige. Leider.

Splinter

Die Viennale kennt kein Halloween, vielleicht ist das auch gut so. Gestern Nacht läuft jedenfalls um 23:30 Uhr Splinter im Künstlerhaus Kino. Ein feines, ambitionsloses B-Movie ohne politische Allüren oder Öffnungen: ein Bioorganismus, der totes organisches Gewebe besetzt und animiert, um an mehr Blut zu kommen, das ist das Monster des Films. Stacheln wachsen aus den Wunden: sticht man sich daran, ist man vergiftet. Zwei ungleiche Paare, ein kriminelles, ein durchschnittliches, verschanzen sich in einer kleinen Tankstelle - und müssen sich auf dem engen Raum Strategien überlegen, um der Bedrohung zu entgehen.

Toter

http://cdn1.gamepro.com

Body of Evidence: der Tankstellenwart ist das erste Opfer von "Splinter"

Regisseur Toby Wilkins impft seinem ordentlichen Monsterfilm ein paar feine Spannungsminiaturen ein: etwa wenn die Bedrängten versuchen, mit einem Drahtgestell das Funkgerät der gerade in zwei Hälften gerissenen Polizistin zu erreichen, während man schon das Monstrum über das Dach nahen hört. Letztendlich lässt „Splinter“ zu viel Zucker liegen: soll heißen, dass man aus dem spannenden Figuren-Quartett mehr hätte machen können, dass Wilkins das Drehbuch noch einmal überarbeiten und pfiffiger hätte machen sollen. Am meisten stört mich die Kameraarbeit: immer wenn die aufgestaute Spannung eingelöst werden soll, immer wenn das Blut fließt, weil das Ding angreift, werden die Bilder fahrig, die Bewegungen sind verrissen. Man sieht Wunden, das Rot höchstens vorbei wischen. Schnitt. Die Person liegt am Boden.

Hand

www.fearnet.com

Entzückend: das eiskalte Händchen in "Splinter"

Ich weiß, dass Wilkins sehr wenig Geld zur Verfügung hatte: gut investiert hat er etwa in die entzückenden gehenden Hände. Göttliche prostethische Effekte! Eine Freude! Er musste viel tricksen, um mit dem Budget auszukommen. Auch daher rühren die ablenkenden Verwischeffekte. Es ist eine ungeschickte Strategie für einen Horrorfilm: da hätte man mal besser woanders gespart. Denn den Zuschauer die ganze Zeit über aufzustacheln und dann nicht das zu liefern, was man sehen will, das ist ein Kardinalfehler. Ungefähr so, wie wenn man bei einem Porno über die nackten Körper drüber fahren, sie aber nie zeigen würde.

Schöner Schauer

Ich fühle mich wohl in diesem Publikum. Ein wenig erinnert es mich an Sitges: dort findet im Oktober immer das größte Fantasyfilmfestival Europas statt - und der kleine spanische Küstenort verwandelt sich in ein Zentrum des Bizarren und Fantastischen. Die Leute dort gehen ins Kino wie andere zu einem Happening: man will spüren, schreien, leben. Ein wenig von diesem Spirit war gestern Nacht auch im Künstlerhaus Kino zu spüren. Aber es hätte mehr, es hätte intensiver sein können. Wann hat man in Wien in der Halloween-Nacht schon mal die Gelegenheit, sich einen neuen Horrorfilm anzusehen? In meinem Kopf male ich mir schon meinen perfekten Kinoabend aus: 666 würde ich ihn nennen. 6 Filme, von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Ein Marathon. Der Körper löst sich auf im Erlebnis. Die Viennale fürchtet sich vor solchen Spektakeln. Interessant, dass es am Badeschiff keinen Runden Tisch zu Halloween gegeben hat. Mich hätte es nicht überrascht.

Ich werde ein wenig traurig. Gerade weil ich gestern Nacht Spuren einer Filmkultur aufgenommen habe, die in Österreich vernachlässigt wird. In den USA etwa sind die Midnight Movies nicht vollkommen untergegangen. Etwas davon ist zurück geblieben. Eine Erinnerung an die Ära der großen Kinopaläste und kleinen Filmhäuser, an klebrige Böden, Süßigkeiten und Angstschweiß. Ich frage mich, ob man das auch in Wien reaktivieren kann. Oder ob die Leute zu Hause auf ihren Sofas hocken bleiben und sich lieber DVDs ansehen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich es mir wünsche. Dass ich in einer Samstagnacht um Mitternacht in ein Kino gehen will: ich setze mich in eine vollkommen leere Sitzreihe. Ohja, es sind noch andere Menschen da. Ganz hinten sitzt ein junges Paar, das vom Film vermutlich nicht viel mitbekommen wird. Vor mir blickt ein obdachloser Mann auf die Leinwand und träumt von einer gerechteren Welt. Das Kino in seiner Urform. Reiz, Reaktion, Ablenkung. Ein Jahrmarkt für die Gefühle. Der Projektor läuft an. Ich höre sein Rattern. Und es beruhigt mich. Der Geruch vergangener Filme schaukelt mich in die Zwischenwelt. Oh Gott, wie ich das liebe. Und doch kann ich nur mehr davon träumen. Die Welt ist schlecht geworden. Lieblos. Wie sonst soll ich mir das erklären?

Frankenstein

www.kultur-online.net

Wer würde das nicht im Kino sehen wollen?

Ich weiß, das ist nicht das ganze Kino. Für mich ist es aber sein schönster Teil. Abtauchen will ich. Mich und die Welt vergessen. Ohne Reue. Ohne Sinn. Vielleicht sollte ich mich dran machen, die „Creatures of the Night“ wieder zu beleben. Ich weigere mich zu glauben, dass es in dieser großen Stadt zu wenige gute Menschen gibt, die sich zu einem Mitternachtsscreening einfinden würden. Val Lewton zaubert Schatten herbei, Jess Franco foltert barbusige Gefängnisinsassinnen, Terence Fischer zeigt Frankenstein und Mario Bava stürzt mich in gotische Zauberwelten. Ich will all das und noch viel mehr sehen. Nicht nur bei mir zu Hause, auf dem Sofa. Sondern im Kino. Mit euch.