Erstellt am: 31. 10. 2009 - 12:04 Uhr
Vlog #9: Eine kurzer Text über die Freundschaft
Ich habe verschlafen. Schon macht sich bemerkbar, wie das Kino und seine Begleiterscheinungen (dauernd außer Haus; dauernd in Gesellschaft) mich zermürben und zermalmen. Der Schlaf hängt mir noch in den Augen, liebe Leserinnen und Leser, als ich diese Zeilen schreibe. Dabei bin ich gestern Nacht ganz schnell zu Hause gewesen. Das Badeschiff hat mich abgesetzt. Da fahr ich lieber Auto. Es war rauchig, sogar für mich, wo ich während Festivals ohnehin mindestens eine Packung verheize. Ich gähne. Kurze Zeit später sitze ich im Taxi, der Fahrer trägt Schnauzbart und Pferdeschwanz, berichtet mir im breitesten Dialekt und aus einem Mund ohne Zähnen davon, dass vor der Oper "ana aus Bratislava" in einen Straßenbahnzug gerast sei. "Passiert is eh kam wos. Nur Stau."
Glück im Stress
Wahnsinn. Am Morgen dieses Tages sitze ich der U-Bahn Richtung Stubentor (ich gähne, uh, bin ich heute noch müde), lese ein wenig, blicke mich um und höre France Gall. Ihre schönen Schlager beruhigen mich, wenn ich in Eile bin. Dann singt mir die hübsche Französin vom "Computer Nr. 3" und "La Banda" und "Nefertiti" vor. Umso grotesker, wenn ich zum lieblichen Gesang die unangenehmen Fratzen der Mitfahrenden sehen muss. Ich denke an "Body Snatchers" und "C2 Killerinsekt" und die eine Folge von "Raumschiff Enterprise", in der Kirk fremd gesteuert wird. Die auftoupierten Haare bewegen sich ebenso wenig wie die Mundwinkel im Gesicht der vermutlich 50-jährigen, die bedrohlich nach unten hängen. Sie sitzt mir gegenüber. Ich habe Angst. Ihr fröhlicher, beinahe clownesker Lippenstift will nur täuschen: ich denke an Pennywise und einen Rasiermessermund. Träumt diese Frau? Wovon? Ist sie glücklich, traurig, beides auf einmal? Wie kommt es, dass man auf andere wirkt, als wolle man nicht mehr leben? Und es ist eben nicht nur diese eine Person. Mein Waggon ist voll mit ihnen. Ich bin allein. Mit meinem Glück. Vielleicht weil ich ins Kino fahre. Zu meinen Freunden.
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Tick-tack. Drei, zwei, eins. GO! Ich hasse Stress. Üblicherweise habe ich keinen. Nur jetzt. Jetzt fehlt mir die Zeit. Ich hab sie verloren im Schlummerschlaf. Noch nicht mal Zähne geputzt habe ich. In meinem Mund riecht es nach Leichenhalle. Beeilung! Ja. Ja. Jetzt rede ich schon mit mir selbst. Worüber wollte ich heute schreiben? Ich weiß es, über Freunde! Freunde? Wie kitschig, wie uninteressant. Gar nicht. Denn, wie mir jemand unter meinen gestrigen Text geschrieben hat, viele Kinoliebhaber und Raritätensammler sind Einzelgänger. Diejenigen, die auf Flohmärkten nach Filmbüchsen und altem Zelluloid graben, die wollen für sich sein. Nicht einmal ihre Schätze mögen sie ausstellen. Kinoliebhaber sind nämlich auch gern paranoid. Die Wesen aus Licht und Schatten, denen sie sich ausgeliefert haben, steigen herab von der Leinwand und hinein in dein Leben. Die haben überhaupt kein Problem damit. Dann nisten sie sich ein, in deinem "Room of Imagination" und machen dich fertig. Ich bin ein Suchtmensch. Rauchen, trinken, schauen, verfallen. Ohne das Kino könnte ich nicht leben. Schon bin ich bei Freunden, bei Gleichgesinnten, Gleichsüchtigen.
Bei Freunden
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Gestern 21:15 Uhr, Filmmuseum. Tex Averys "Rural Red Riding Hood". Ein Kopf als Rad einer Schubkarre, überall öffnen sich Türen, 6 Minuten vom Trickfilmmeister als ultimative Vorbereitung, Einstimmung und Einschwörung auf Jerry Lewis, den großen Grimassier und Visionär des amerikanischen Kinos, der von den Studios verwertet wurde, dann versucht hat, sich seine Unabhängigkeit, seine Eigenständigkeit selbst wieder zu schenken. In Lewis’ Regiearbeiten wie "The Ladies Man", der gestern im ausverkauften Filmmuseum zu sehen war, merkt man das ganz stark: Everything is not alright. Chaos regiert. Von Trier, du kommst zu spät. Ein Junggeselle, der gerade das Junior College abgeschlossen hat und von seiner Herzensdame für einen Anderen sitzen gelassen worden ist (Herzschmerz!), wird Hausmeister, Mann für alles und "Ladies Man" im ausladenden (komplett im Studio errichteten) Haus der alternden, stolzen Operndiva Helen Wellenmellon. Wie in einem Varieté oder einer Sketch-Parade lauert in jedem neuen Raum nicht nur eine neue junge, ausnehmend gut aussehende Dame, sondern auch ein neuer Aufbau für Lewis geniale, verräumlichte Komik. Er rennt, schreit, hüpft, tanzt und versinkt im Bett. Irgendwann betritt er auch den verbotenen "Room of Imagination", ganz in Weiß. Eine Frau in schwarzem Ganzkörperanzug seilt sich von der Decke ab wie ein Monster und tanzt mit diesem Herbert H. Heebert (Herby) zu einer Big Band, die sich auf der Terrasse des Anwesens eingefunden hat.
Filmmuseum
Ich freue mich, habe diesen schönen Film noch nie im Kino gesehen. Um mich herum sind Freunde. Einer aus diesem losen Zirkel, der sich immer wieder auf diversen Filmfestivals trifft und einen graduell verschiedenen, insgesamt aber annähernd ähnlichen Zugang zum Kino hat, hat uns alle zusammen getrommelt. Und jetzt sind wir hier und machen das, was wir am besten können und am liebsten machen. Filme sehen und dann darüber reden. Privat gehe ich häufig alleine ins Kino. Da es einfach nicht anders machbar wäre, da ich fast täglich dort bin. Im Saal treffe ich mittlerweile schon auf bekannte Gesichter, weiß, warum die Frau M. immer in der ersten Reihe sitzt, weiß, weshalb Herr R. Randplätze bevorzugt. Eine Gemeinschaft. Eine Vereinigung. Gottesdienst, wenn man so will.
Filmmuseum
Mir ist warm ums Herz. Weil ich weiß, dass das nicht nur eine zweckbestimmte Angelegenheit ist. Wir mögen uns wirklich. Und wir helfen uns. Als ich als Kurator verzweifelt, am Ende meiner Nerven auf der Suche nach einer tauglichen Zelluloid-Kopie von Dario Argentos "Suspiria" gewesen bin, habe ich diese meine Freunde angeschrieben. Sie sitzen in Melbourne, Manila, Los Angeles und Chicago: die Antworten kamen prompt, jeder (!) und jede (!) hat seine Hilfe angeboten, versprochen, sich für mich umzuhören. Tatsächlich verbindet mich der Junge aus Chicago dann mit einem aus Bradford/GB und dem dortigen Filmarchiv. Die Kopie kommt. Danke, meine Freunde. Es tut gut, wenn man sich immer wieder rauschhaft in imaginären Welten verliert, wenn man dann Boden unter den Füßen hat. Ich verabschiede mich, die Kälte fährt mir übers Gesicht. Geblieben ist mir das Dunkel des Kinos, Jerry Lewis’ Gesicht und eine wohlige Wärme. Ich bin nicht allein.