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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

31. 10. 2009 - 10:47

Getting it wrong, Teil 3

Alltagshierarchie in der Sprache. Implizite Du- und Sie-Worte und alles dazwischen.

Getting it wrong
Kulturelle Missverständnisse

Zugegeben, wenn ich ein Student in Wien wäre, fände ich dieses Thema vermutlich gerade nicht so brennend wie die Uni.

Aber einerseits hab ich ja selbst schon Ewigkeiten vor meinem Studienabbruch meinen, zumindest musikalischen Audimax-Besetzerdienst abgeleistet (so circa ’87 als Schüler mit meiner damaligen Band unfreiwillig aber effizient den Saal geräumt, dann so um ’95 herum mit anderer Band doch wesentlich besser angekommen), andererseits sind wir hier – auch die solidarischen unter uns – eben nicht alle Wiener Studierende.

Insofern haben wir vielleicht auch nebenbei noch Energien übrig für einen dritten Anlauf zur Ausräumung kultureller Missverständnisse: Zum Beispiel der weit verbreiteten EnglischlehrerInnenweisheit, dass das Englische kein per Sie und per Du kenne.

Technisch gesehen natürlich richtig.

Grabstein für love oder darling, Kingston Upon Thames

Robert Rotifer

Grabstein für Love oder Darling, Kingston upon Thames

Allerdings gibt es ein enorm vielschichtiges Äquivalent des Siezens und Duzens, das sich nicht in Personalpronomina, sondern in den omnipräsenten, kleinen aber bedeutenden Anhängseln der alltäglichen Anrede manifestiert.

Gestern zum Beispiel war ich in einer Bar.

Der junge Mann hinter der Theke sagte „sir“ zu mir. Beharrlich. „Alright, sir.“ „Thanks, sir.“ „Here’s your 20p change, sir.“

Yes sir I can boogie

Unmöglich, das nicht als Kommentar über mein Alter zu deuten. Einst, als ich in dieses Land gezogen bin, hat die Frische meiner Haut und der ebenmäßige Farbton meines Haars das S-Wort noch tief in den Kehlen der Barmänner gebannt.

Ich hab ja an sich nichts gegen den Respekt, der in einem unschmierig knapp ausgesprochenen „sir“ durchklingt. Aber das Gefühl, sich diesen Respekt durch abgediente Lebensjahre erworben zu haben, ist auch irgendwie ein hohles.

Es ist tatsächlich das direkte Gegenstück dazu, in Österreich am Ausschank (unter 1000m Seehöhe) per „Sie“ bedient zu werden. Ein mit der Rückhand serviertes Kompliment.

Besser allerdings noch als das ein eindeutiges „Du“ signalisierende „mate“.

Freund Darren Hayman tweetete gestern beispielsweise:

“I am wood working. Yes I am. Bloke at timber yard called me 'mate'. I am his 'mate'! I'm one of them now. You know, men and all that.”

Grober Irrtum, Darren! Er ist nicht wirklich dein Kumpel. Er ist einer, der dir sein Holz verkaufen will und daher so tut, als wärst du einer wie er und seine Männertypen.

I thought we were mates

Er hat natürlich schon aus weiter Ferne erkannt, dass du nicht sein „mate“, sondern eine intellektuelle Brillenschlange bist, die keinen Hammer halten kann. Aber er sieht auch die Beule, die deine Brieftasche in dein Sakko macht.

Das ist dann ziemlich exakt so wie das „Du“ über 1000m Seehöhe, vielleicht in einer Schihütte (samt unausgesprochen mitschwingender Grundsatzmeinung über TouristInnenpack, zumal aus Wien).

Matratze unter Geröll

Robert Rotifer

Obdachlosenquartier, ebenfalls in Kingston, vermutlich ein "mate", wenn er verscheucht wird, auch "mister" genannt

Stimmt schon, mir kann man’s offenbar nicht recht machen, weder mit „mate“ noch mit „sir“, und schon gar nicht mit „man“, das mir zugegebenermaßen auch noch nicht allzu oft untergekommen ist. Wenn dann eigentlich nur beim Interviewen.

Integrative Typen wie Paul Weller zum Beispiel, die freundlich so tun, als sprächen wir auf einer Ebene miteinander, sagen gern „man“.
Erdig.
Auf eine männlich schulterklopfende Art, die ich eigentlich von keinem meiner persönlichen Freunde im Ohr hab.
Was natürlich vor allem was über meinen hoffnungslos unlässigen Umgang aussagt, aber ich werd es jedenfalls sicher nicht einzuführen versuchen. Zu unglaubwürdig. "What are you doin' tonight, man? Alright, man. Cool, man. Naaa... I'm gonna stay at home, man. Yeah, man. Goodnight, man. Some other time."

Take care, love

Womit wir auch schon bei der heiklen Ebene der Geschlechterverhältnisse in der Anrede angelangt wären. „Madam“ ist per Sie, das ist klar. Aber das scheinbar geschlechtsneutrale „mate“ geht sich gegenüber Frauen auf der du-Ebene auch nicht ganz aus. Und die von KellnerInnen besonders gern bemühte amerikanische „you guys“-Variante für gemischtgeschlechtliche Gesellschaften macht mich sowieso schaudern.

Was als Du-Form gegenüber jüngeren Frauen durchgeht, ist ein undramatisches "love". Zum Beispiel zwischen Obstverkäufer und Kundin.

Nicht zu verwechseln mit dem "love", das altvordere Verkäuferinnen ihrer jüngeren Kundschaft gegenüber anbringen.
Dieses "love" ist ein mütterliches, und kommt auch mir, der in der Bar längst ein "sir" ist, noch manchmal zu Ohren. „D’you need a bag for that, love?“ Brrrr.

"Love" als Du-Anrede ist übrigens Working- bis Lower Middle Class. "Darling" gibt es dagegen - ziemlich altmodisch, aber gerade deshalb wieder post-ironisch beliebt - in allen sozialen Schichten. Allerdings mit leicht verschiedenen Funktionen:

In der Working Class-Variante (ohne "g" am Schluss, siehe Allo Darlin) eignet es sich nur für Frauen, in der Middle Class geschlechtsneutral für zivilisierte Verhandlungen zwischen (Ehe)Partnern, und in aristokratischen bzw. Schauspielerkreisen ebenfalls geschlechtlich flexibel als gegenseitige Bestätigung der Klüngelzugehörigkeit.

Darling, what's for tea?

Deshalb also brauchen die AngelsächsInnen kein Du und kein Sie. Nicht etwa wegen ihrer demokratischen Instinkte, sondern weil sie sich - ganz im Gegenteil - zum Ausdruck ihrer komplexen Hierarchien weit feinerer Kämme bedienen.

Am einsamen Gipfel der diesbezüglichen Befremdlichkeiten sonnt sich zweifellos das assymetrische per Sie-Äquivalent zwischen Klassen und Rassen, verwendet ausschließlich von Working- in Richtung Middle Class oder von schwarz in Richtung weiß - nie umgekehrt! -, und zwar: „Boss“.

Ich scherze nicht. Erst neulich hat mir ein Londoner Nachbar karibischer Herkunft als Begrüßung ein herzliches „Alright, boss?“ hingeschmissen.

Auch hier gibt’s einen Subtext. Er spricht mit Ironie, das seh ich in seinem alles andere als unterwürfigen Grinsen, aber wir wissen beide, was er persifliert. Und "boss" geht in anderen Situationen durchaus auch ohne ironischen Bruch. Vom Automechanikerlehrling zum Kunden zum Beispiel. „Gnä’ Herr“ eben. Nur noch eine entscheidende Stufe härter.

Leider nicht mehr in Gebrauch sind "chap" oder "chavvy" statt "mate", "squire" als jüngere Version des "sir" oder das sehr vornehme, je nach Melodie ermahnende bis verbündende "dear boy".

Vorsicht ist wiederum bei „mister“ geboten. Wenn einem das einer heutzutage (zumindestens im Britischen) öffentlich nachruft, steht man womöglich unter Kriminalverdacht.