Erstellt am: 30. 10. 2009 - 16:17 Uhr
Journal '09: 30.10.

firelight media
Wieso es mich ins Theater verschlägt? Gute Frage.
Ich hab da eine Bekannte (die war vormals beim Rabenhof), mit der ich, wenn wir uns zwei-, dreimal im Jahr irgendwo zufällig treffen, immer trefflichst die Dinge des Lebens bespreche. So gesehen ist sie mir näher als zb die meisten Facebook-Freunde. Aber von dieser Bezeichnung/ Unterscheidung zwíschen Freund/Bekannschaft halte ich eh nicht viel. Es geht immer nur um die Qualität des Austauschs. Und beim letztenmal, vor ein paar Woche, da sagt sie, he, ich hab demnächst meine erste eigene Inszenierung, schau doch vorbei! Und ich sag das, was man in solchen Fällen immer sagt (ja klar, gerne!) aber dann genauso oft nicht tut. Und hab' dann diese öde Normalität durchbrochen und war echt dort. Aus drei Gründen: erstens um diese Lippenbekenntnis-Sache einmal hintanzustellen, zweitens, weil die Sekten-Problematik mich grad beschäftigt hat und drittens, weil das Jonestown-Massker seit jeher mein Thema war.
Es gibt genau gar keinen Jahrestag, glücklicherweise. Und der Anlass ist ein vergleichsweise unscheinbarer: ein kleines Stück Theater in einem winzigen Raum. Aber so ist das mit den nichtzufälligen Zufällen: sie können dich dorthin führen, wo's interessant wird.
Und so drängelt mich Endstation Jonestown eine kleine Aufführung aus dem Burgtheater Vestibül ins Kalifornien und Guyana des Jahres 1978, zurück in mein Matura-Jahr und läßt mich schon den ganzen Tag auf alten und neuen Seiten, in Dokumenten, Filmen und Tonbandaufnahmen wühlen.
In Jonestown, Guyana, sterben im November 1978 über 900 Menschen bei einem Massenselbstmord.

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Sie gehören zum Peoples Temple des charismatischen Predigers Jim Jones, der dorthin ausgewandert ist, weil seine Kirche, seine Sekte, in Kalifornien eine Menge Anstoß erregt hat. Sie war zu basischristlich, zu radikal, zu egalitär und "kommunistisch", aber natürlich auch - wie alle Sekten - hochproblematisch, was Missbrauch, Finanzierung, Repressionen etc betraf.
Sozialismus trifft Christentum
Im tropischen Klima der Kolonie Jonestown eskaliert die Lage, und als der Kongress-Abgeordnete Leo Ryan (siehe auch unter "Trivia") zu einer Fact-Finding-Mission eintrifft, gerät die Lage außer Kontrolle: eine kleine Gruppe der Jonesianer will mit ihm das Lager verlassen, es kommt zu einer Schießerei am Flughafen, Ryan und seine Begleiter werden getötet.
Jones erkennt daraufhin die Ausweglosigkeit seiner Situation und beschließt den schon zuvor immer wieder angedachten und auch in sogenannten "white nights" geprobten kollektiven Selbstmord seiner Gemeinschaft.
Der erfolgt mittels Giftcocktail. Die allermeisten Anhänger gehorchen und gehen in den Tod, die berüchtigten Guards erschießen den Rest, ehe sie sich selbst töten.
Die Bilder des mit Leichen übersäten Jonestown-Lagers gehen um die Welt und verändern das Bild das die Menschen von Sekten haben, massiv. Das war bis dorthin, Manson zum Trotz, nicht unbedingt mit dem Tod, oder gar mit Massensterben besetzt.

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Die Drastik des Endes von Jonestown und das Debakel im fernen Guyana verstellt aber auch den Blick auf die Ursprungs-Idee dieser Gemeinschaft, eine bis heute radikalutopistische Vision einer egalitären Gesellschaft, die - sehr praktisch und eklektisch - die Gemeinsamkeiten der Lehren von Jesus und Marx/Engels verband, also die sonst gern theoretisch gezogenen Parallelen zwischen Christentum und Sozialismus praktisch umsetzen wollte. Dazu kamen Elemente aus den Lehren Buddhas und der Praxis von Mahatma Gandhi. Jones verehrte auch den damals noch allgemein als edlen Revolutionär gesehenen Mao Zedong.
1978, Ende einer Utopie
In den USA der 70er, in einer von Vietnam und Watergate geprägten Ära, waren Experimente gesellschaftlicher Natur durchaus an der Tagesordnung.
"Trivia": Congressman Leo Ryan, Ex-Bürgermeister im liberalen San Francisco, war eine der schillerndsten Figuren seiner Tage. Nach den Watts Riots den Rassenunruhen von 1965, ging Ryan vorort und nahm kurzfristig einen Job als Aushilfslehrer an, um die Zustände zu dokumentieren. Seinen Ruf als Investigativ-Politiker stärkte er in den 70ern, als er sich unter einer falsche Idenditöt verhaften ließ um das kalifornische Gefängnis-System von innen zu erforschen. Ryan war 10 Tage im berüchtigten Folsom Prison und nützte dieses Wissen dann als Chairman des Kommittes für eine Gefängnis-Reform. Ryan galt im Kongress als Sekten-Experte, er warnte etwa früh (und vergeblich) vor Ron L. Hubbard und Scientology.
Jones' offene Kirche, die vor allem durch ihre Durchlässigkeit, was schwarz und weiß, aber auch die Klassen betraf, bestach, wurde als positives Beispiel einer neuen Kirche, als positive Variante einer Sekte betrachtet.
Jones hatte Fürsprecher in Angela Davis oder Huey Newton, die seine rassenübergreifende Arbeit unterstützten, in Harvey Milk, der seine offene Ansprache von Sexualität schätzte, tauschte sich mit First Lady Rosalynn Carter und den demokratischen Vordenkern Fritz Mondale oder Jerry Brown aus.
Das positive Bild drehte sich als die Jonesianer San Francisco verließen um ihr Ideal einer Community in Guyana praktisch umzusetzen. In der Zwischenzeit hatten Paranoia, Probleme in der Organisations-Struktur, die Überbeschäftigung mit der Reglementierung der Sexualität (Jones großer wunder Punkt), absurde Bestrafungs-Rituale und Details wie die reduzierung von Schlaf zugunsten höherer Arbeitsleistung dafür gesorgt, dass eine idealistische Gemeinschaft sich mit Dingen aufrieb, die sie weit weg von den zentralen Fragen geführt hatte.
Jones, der Führungsstab und die Guards (unter denen es bezeichnenderweise keine Schwarzen gab) kollidierten in diesem Feldversuch abseits sonstiger sozialer Verbindungen mit den Alltags-Nöten der Gemeinschaftsmitglieder.
Die Temple People hielten ihre Diskussionen und Debatten seit jeher auf Band fest, die Site des Jonestown Institutes hält die Tapes als Transkript und auch als mp3 bereit, auch wenn etliche der Dokumente von der US-Regierung als "classified" nicht öffentlich gehalten werden.
Das berüchtigte Death Tape (hier auch über eine andere Quelle nachhörbar) dokumentiert die letzte gemeinschaftliche Sitzung.
Dokumentier-Wut
"Trivia": ursprünglich hätte auch Dan Quayle, später Vizepräsident unter dem älteren Bush, und vor Bushs Sohn der womöglich größte Tölpel im Weißen Haus ever, der Ryan-Delegation angehören sollen.
Jones und alle Mitglieder des Peoples Temple waren sehr bemüht ihre Entwicklungsschritte festzuhalten - unüblich für Sekten, wie wir sie heute kennen. Die sind entweder daran interessiert PR-Müll rauszuschicken oder fahren eine Politik offensiver Geheimniskrämerei (wie Scientology).
Die Jonesianer hatten auch hier einen komplett konträren Ansatz. Ihr Streben mittels ihrer Gemeinschaft sowas wie einen besseren Menschen zu schaffen braucht eine Außendarstellung.

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Insofern eignet sich die Geschichte von Jonestown erstklassig zur Aufarbeitung. Dass das erst recht spät mit einer Doku (2006 erschien The Life and Death of Peoples Temple, die dann allerorten zu sehen war) geschah ist durchaus bemerkenswert.
Irgendwie haben die 80er und 90er dieses nicht ins Konzept "Sekte" passende Phänomen weggedrückt.
Weshalb ich für das kleine 5-Personen-Stück im Vestibül auch dankbar bin. Dort hantiert man auf kleinsten Raum mit Requisiten wie Pappbechern (aus denen final der Giftcocktail getrunken wird) und einer Tonband-Maschine, die vieles aufnimmt. Und ausschließlich auf Basis der Dokumente und Tonband-Abschriften. Nix Spiel-Doku, alles Original-Material - die Bilder dazu müssen aus dem Kopf-Archiv kommen; ich hab sie dort noch abgespeichert. Und ihr habt jetzt einen Floh im Ohr.