Erstellt am: 29. 10. 2009 - 16:54 Uhr
Journal '09: 29.10.
Der Amerikaner Dan Gillmor ist spätesten seit seinem 2004 erschienenen Standard We, the Media nicht nur Prophet eines neuen Grassroots-Profils von Journalismus, sondern ein (Nach-)Hilfeleister für alle, die Angst vor den neuen Tools in den Medien haben. Er leitet ein Institut an der Walter Cronkite School of Journalism and Mass Communication in Arizona und hat dieser Tage, auf Einladung des in New-Media-Angelegenheiten sehr forschen Guardian, ein Update gebastelt.
Unter dem Titel The new Rules of News veröffentlicht Gillmor da 22 Ideen für eine neue Art der News-Produktion.
Sein Einstiegssatz lautet: "Journalists need to stop being so lazy and unimaginative." Dementsprechend kontrovers wurde/wird alles, was er einfordert aufgenommen, vor allem von der sich wieder einmal primär angegriffen fühlenden Holzklasse unter den Journalisten.
Ich sehe die 22 Punkte eher als - noch utopistisches - Anforderungs-Profil für aktuellen Web-Journalismus. Und wäre schon froh, wenn sich im hinterherhinkenden Österreich (bis Jahresende) drei bis fünf Ideen umsetzen lassen würden - den eigenen Laden, das eigene Journal miteingeschlossen.
The Gillmor 22
Ich möchte hier nicht alle Ideen/Punkte abmalen. Hinter einiges bin ich noch nicht gestiegen, einiges ist sehr spezifisch anglo-saxon, einiges bezieht sich direkt auf US-Gesetze und -Modalitäten.
Außerdem ist die Reihenfolge der Punkte ein wenig sprunghaft, es git keine Gruppierung.
Ich zb würde seine Punkte 1 und 11 gern zusammenfassen
(1) We would not run anniversary stories and commentary, except in the rarest of circumstances. They are a refuge for lazy and unimaginative journalists.
Das hat mich sehr zum Lachen gebracht.
Denn im Frühsommer, als die Jahrestagerei und die dementsprechende Berichterstattung fröhliche Urständ' gefeiert hat, kam FM4-Internet-Chefin Ute Hölzl genau damit: wie sehr das nerven würde und wie bekämpft das gehört. Nicht nur bei den anderen, auch im eigenen Verein.
Recht hatte sie, recht hat sie.
Wir haben's dann nicht thematisiert, auch weil sich's manchmal einfach nicht vermeiden lässt: 20 Jahre Mauerfall zb sind einfach ein teuflich guter Anlass um alles mögliche anzugehen. Wo Gillmor "rarest" sagt, wollen wir uns um "rare" bemühen.
(11) We would never publish lists of ten. They're a prop for lazy and unimaginative people.
Dieser Listen-Quatsch ist eher eine US-Krankheit. Bei uns schlägt sich das in "Die 100 besten und wichtigsten XY" nieder. Auch grauenvoll. Und trotzdem werden wir anlässlich des ausrinnenden Jahrzehnt genau so ein Musik-Ranking machen. Okay, auch hier: "rare".
Müssen tamma sterben!
(14) The word 'must' – as in 'The president must do this or that' – would be banned from editorials or other commentary from our own journalists, and we'd strongly discourage it from contributors. It is a hollow verb and only emphasizes powerlessness. If we wanted someone to do something, we'd try persuasion instead, explaining why it's a good idea and what the consequences will be if the advice is ignored.
Für Österreich, wo sich U-Bahn-Kritzler bemüßigt fühlen die Regierungschefs dauernd in dieser Diktion anzureden (auch weil sie wissen, dass die drauf reagieren) ist das natürlich nur ein Witz.
Anmerkung: ein Grad der Härte der Argumentation betreffend die Konsequenzen ist hier, zurecht, nicht definiert. Das hätte mich auch gewundert. Es geht um die Präsentation von Möglichkeiten und anderen Zugängen. Etwas, was im angloamerikanische Journalismus selbstverständlich ist, hierzulande aber gerne als "Nestbeschmutzung" ausgelegt wird.
Die 4. Wand
(3) Transparency would be a core element of our journalism. One example of many: every print article would have an accompanying box called 'Things We Don't Know', a list of questions our journalists couldn't answer in their reporting. TV and radio stories would mention the key unknowns. Whatever the medium, the organisation's website would include an invitation to the audience to help fill in the holes, which exist in every story.
Das ist brillant, Professor!
Und in Österreich kaum durchführbar. Niemand will/kann hier zugeben, dass etwas fehlt, nicht beachtet, nicht gefragt, nicht hinterfragt wurde, das lassen die Egos nicht zu.
Die Vierte Wand zu durchbrechen und den Rezipienten einzubeziehen kann und muss aber mehr sein als ein bloßer dramaturgischer Kniff.
Ich trau mich das zuwenig, am ehesten noch im Fußball-Bereich, unter Verwendung von Fragen an ein Publikum, das zum Großteil (das weiß ich) aus Kennern besteht. Bei anderen Themen fehlt mit diesbezüglich womöglich das Vertrauen.
Da wäre also ein Vorschuss nötig.
Raus aus der PR-Falle
(7) We would replace PR-speak and certain Orwellian words and expressions with more neutral, precise language. If someone we interview misused language, we would paraphrase instead of using direct quotations. Examples, among many others: The activity that takes place in casinos is gambling, not gaming. Piracy does not describe what people do when they post digital music on file-sharing networks.
Unglaublich wichtig. Das berührt einerseits unhinterfragt übernommene Begriffe, die bereits eine bestimmte Denkrichtung vorgeben (wie in meinem Musterbeispiel dieses Jahres und möchte die fatale Neigung zu Herrschaftswissen, die die sogenannten Qualitätsmedien vor sich her tragen, unterminieren.
Auch der Hinweis auf den Begriff der Piraterie ist exzellent. Da haben die Medien einfach übernommen, was ihnen eine Lobby vorgesetzt hat. Glücklicherweise haben die Filesharer die eigentlich als Missachtung gedachte Benennung freudig übernommen und in ihrem Sinn umgedeutet - was die einzige Wehrhaftigkeit ist, mit der man derartigen Unverschämtheiten (mit Medien als frechen Erfüllungsgehilfen) entgegnen kann.
Das Ende der Abschottung
(8) We would embrace the hyperlink in every possible way. Our website would include the most comprehensive possible listing of other media in our community, whether we were a community of geography or interest. We'd link to all relevant blogs, photo-streams, video channels, database services and other material we could find, and use our editorial judgement to highlight the ones we consider best for the members of the community. And we'd liberally link from our journalism to other work and source material relevant to what we're discussing, recognising that we are not oracles but guides.
Klingt selbstverständlich, bedeutet aber einen Denk-Umstieg. Noch vor acht Jahren war es allgemeine Netz-Politik den User unter keinen Umständen eine Fremd-Klick-Möglichkeit zu geben. Dieses Diktum existiert (in einigen langsamen Köpfen) leider immer noch.
Aber Gillmor geht weiter:
(15/16) We'd routinely point to our competitors' work, including (and maybe especially) the best of the new entrants, such as bloggers who cover specific niche subjects. We would make a special effort to cover and follow up on their most important work, instead of the common practice today of pretending it didn't exist. When we'd covered the same topic, we'd link to them so our audience can gain wider perspectives. We'd also talk about, and point to, competitors when they covered things we missed or ignored. Basic rule: the more we wish we'd done the journalism ourselves, the more prominent the exposure we'd give the other folks' work.
Das ist völliges Neuland, die Holzklasse zuckt vor Grauen, wenn sie daran denkt, aber nicht einmal die heimische Blogoshpere schafft das wirkich.
Die Blogroll der von mir unendlich geschätzten Web-Journals Zib21 verweist auf Brüder und Geschäftspartner, nicht auf die relevanten Quellen, die inhaltlich gerne zitiert werden. Andere sind da nicht besser, tappen da eher in Distinktions-Fallen und gehen mit dem Tool der Community-Vernetzung letztlich sehr oberflächlich und schleißig um.
Und für mich heißt das, nach nur kurzem Nachdenken, dass ich sowas demnächst einrichten werde. Nicht nur thematisch passende Links, sondern eine Sammlung der wichtigsten Kontributoren.
Themensetzung, siehe auch: Uni-Proteste
(17) The more we believed an issue was of importance to our community, the more relentlessly we'd stay on top of it ourselves. If we concluded that continuing down a current policy path was a danger, we'd actively campaign to persuade people to change course. This would have meant, for example, loud and persistent warnings about the danger of the blatantly obvious housing/financial bubble that inflated during this decade.
Das spricht die Gefahr des Backlashs an, der gerade in einer Community der Seen-it-Before-Menschen, die sich nach zwei, drei Anmerkungen zum selben Thema bereits überinfomiert fühlen, mehr als gegeben ist.
Denn: während sich der Mainstream nach einer gewissen Zeit immer fadisiert und flehentlich nach der neue durchs mediale Dorf zu treibenden Sau Ausschau hält, ist die Beharrlichkeit auf zentralen Themen draufzubleiben natürlich schwieriger zu argumentieren.
Vorteil: der Mainstream beschäftigt sich ja nur ungenau und oberflächlich - der neue, mit der 4. Wand interagierende Web-Journalismus kann auch im scheinbar abgegrasten Bereich immer Interessantes aufstöbern.
Was du tun kannst!
(19) For any coverage where it made sense, we'd tell our audience members how they could act on the information we'd just given them. This would typically take the form of a 'What You Can Do' box or pointer.
Wie damals in Brockdorf, würde der Vater der Münsteraner Tatort-Kommissars sagen.
Ja und Nein.
Es handelt sich bei dieser Idee (die wohl bald ein Basic sein wird) nicht um eine Aufforderung der Marke Unterschriftenliste, sondern um die Ermöglichung einen Anstoß zu geben. Aktiv werdern muss schon der Einzelne selber. Meiner Ansicht nach genau die richtige Mischung: nicht zu patronizing, aber auch nicht zu pseudo-neutral und scheinobjektiv.
Im Übrigen: Der Begriff der Objektivität taucht bei Gillmor nicht auf. Er ist zu schlau etwas derart Abgegriffenes und von den alten Medien-Hierarchien inhaltlich abgetötetes zu verwenden.
(18) For any person or topic we covered regularly, we would provide a 'baseline': an article or video where people could start if they were new to the topic, and point prominently to that 'start here' piece from any new coverage. We might use a modified Wikipedia approach to keep the article current with the most important updates. The point would be context, giving some people a way to get quickly up to speed and others a way to recall the context of the issue.
Hilfestellung, Teil 2: die mit ins Haus gelieferten Basics. Auch etwas, was wir hier schon oft besprochen, beratschlagt, verworfen haben. Und angesichts der Wirkungsmacht von Wikipedia auch nicht in jedem Fall nötig.
Politische Bildung
Nur eine Fußnote, aber wichtig und künftig wahrscheinlich auch verpflichtend, per Mediengesetz:
(4) We would create a service to notify online readers, should they choose to sign up for it, of errors we've learned about in our journalism. Users of this service could choose to be notified of major errors only (in our judgment) or all errors, however insignificant we may believe them to be.
Manche der Ideen sind unausgereift. Für den Problemfall Ausbeutung und Bezahlung hat Gillmor etwa auch keine echte Lösung, nur einen Wunsch:
(2) We would invite our audience to participate in the journalism process, in a variety of ways that included crowdsourcing, audience blogging, wikis and many other techniques. We'd make it clear that we're not looking for free labour – and will work to create a system that rewards contributors beyond a pat on the back – but want above all to promote a multi-directional flow of news and information in which the audience plays a vital role.
Mir macht das nichts aus, zum einen, weil schon drei dieser Inputs mehr sind, als auch der ganzen österreichischen Szene in diesem Jahr gekommen ist, zum anderen, weil die Richtung stimmt.
(10) We would help people in the community become informed users of media, not passive consumers – to understand why and how they can do this. We would work with schools and other institutions that recognise the necessity of critical thinking.
Das ist letztlich das worum es geht: Medien als Beförderer eines mündigen Bürgers, einer kritischen Masse. Es geht um politische Bildung.
Einer der Guglhupf-Nachfolger von "Welt Ahoi" hat dieser Tage auf die Frage warum die politische Satire so im Kommen wäre folgendes gesagt: "Ich glaube, das liegt auch daran, dass der Journalismus so schlecht ist." Die Leute, also die in Österreich unangesprochene Vierte Wand, meint er, würden ins politische Kabarett gehen "weil sie das Gefühl haben, dass sie was erfahren."
Richtig. Höchste Zeit das zu ändern.