Erstellt am: 29. 10. 2009 - 15:47 Uhr
Alles ausziehen, oder was?
In nächster Zeit wird die Zahl der Leute, die Versicherungsleistungen wie das Arbeitslosengeld oder staatliche Sozialleistungen in Anspruch nehmen, massiv zunehmen. Ein kollektiver Anfall von Arbeitserschöpfung?
Nein, die Krise wird am Arbeitsmarkt jetzt erst richtig spürbar. Gegen eine Abwärtsspirale von „mehr Arbeitslose => Sinken der Kaufkraft => Einbrechende Unternehmensumsätze => mehr Arbeitslose“ gibt es Puffer, die Fachleute „Automatische Stabilisatoren“ nennen: In der Krise werden automatisch Arbeitslosengeld und Sozialleistungen stärker in Anspruch genommen. Gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen. Das bedeutet ein wachsendes Budgetloch für den Staat, stabilisiert aber die Wirtschaft. Wenn es dereinst mit dem Aufschwung wieder etwas wird, dann sinken diese Ausgaben automatisch wieder, die Steuereinnahmen steigen wieder, und das Defizit nimmt ab.
Den Anstieg der Sozialausgaben selbst als Krise zu interpretieren, basiert auf Ignoranz dieses Zusammenhangs. Aktuell diskutierte Maßnahmen wie die Einrichtung von Transferkonten (auf dem alle staatlichen Beihilfen pro Haushalt aufgelistet werden), Verknüpfung von Familienbeihilfe mit Auflagen wie Schulbesuch etc. zielen auf Abschreckung von Anspruchsberechtigten ab. Bereits jetzt wird die Sozialhilfe von viel weniger Menschen bezogen als darauf Anspruch hätten. Angst vor Stigmatisierung spielt dabei wohl eine wesentliche Rolle. Ökonomisch bedeutet das eine Torpedierung der automatischen Stabilisator-Rolle dieser Leistungen zu einem Zeitpunkt, wo sie am dringendsten gebraucht werden.
Transparenz ist immer gut - oder?
Schlägt die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen dieses ökonomische Argument? Ist nicht Transparenz per se etwas Gutes? Möglicherweise, aber wer sich auf diese Debatte einlässt, kommt an grundsätzlicheren Überlegungen nicht vorbei. Die Frage, wer gegenüber wem wofür transparent sein soll bzw. muss, berührt elementare Fragen der Machtverteilung. Wer eine spezielle Gruppe wie etwa SozialleistungsempfängerInnen in die Auslage stellt, nimmt Machtverschiebungen vor, denn öffentliche Bekanntmachung der Inanspruchnahme sozialer Rechte ist kein Vergnügen in einem öffentlichen Umfeld, in dem Lohnarbeit ein geradezu fetischistisch hoher Wert zugesprochen wird.
Das Grundargument der Transferkonto-Idee ist: Steuerzahlende wollen wissen, wer die aus ihren Abgaben finanzierten Leistungen bezieht. In der aktuellen Debatte wurde darauf hingewiesen, dass das nicht nur Sozialleistungsbeziehende betrifft, sondern auch sonstige Subventionsempfangende, wie etwa Unternehmen und landwirtschaftliche Betriebe. Doch auch die Ausweitung auf andere staatliche Transferleistungen gehorcht noch einem verengten Blickwinkel.
Was wollen wir wissen
Angaben über jene Steuerpflichtigen, die ihr Geld zur Steuerschonung in Steueroasen transferieren, könnten Steuerzahlende auch interessieren. Österreich z.B. verschleiert bzw. hintertreibt mit seinem Bankgeheimnis diese Information gegenüber der Steuerzahlergemeinschaft im Ausland (wenngleich der Druck das zu ändern derzeit steigt). Auch Angaben über jene, die mittels Erbschaften einen Startvorteil im Leben genießen, wären für Nicht-Erben interessant.
Damit tastet man sich bereits vor in jenen Bereich, wo Einkommen „privat“ erzielt werden. Welche gesellschaftlichen Voraussetzungen haben diese Einkünfte? Auf welchen staatlichen Vorleistungen – vom Rechtsschutz über Infrastruktur bis zum polizeilichen Schutz des Eigentums – beruht die unternehmerische Erwerbsfreiheit? Welche gesellschaftlichen Akzeptanzleistungen hat die bestehende marktwirtschaftliche Ordnung und Einkommensverteilung zur Voraussetzung? Werden diese entscheidenden Rahmenbedingungen - die so gut funktionieren, dass sie als ganz selbstverständlich hingenommen werden - angemessen abgegolten?
Und: Wer finanziert eigentlich die politischen Gruppierungen (Parteien, Vereine), die mit Forderungen nach Sozialleistungs-Transparenz auf den Staat einzuwirken versuchen?
Bei genauerer Überlegung wird deutlich: Es gäbe vieles, über das Transparenz herzustellen interessant wäre. Die Kernfrage ist: Wer ist der Gesellschaft Rechenschaft schuldig? Darüber muss politisch gestritten werden.
flickr
Die Ausgangslage ist dabei für verschiedene gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich: Transparenz ist unproblematisch für eine Gruppe, wenn sie Definitionsmacht über die öffentliche Bewertung der transparent zu machenden Angelegenheit hat, oder - wenn ihr das nicht gelingt – sie zumindest die Macht hat, sich Sanktionen zu entziehen, wenn sie gemäß den öffentlichen Bewertungskriterien schlecht abschneidet. Die SozialleistungsempfängerInnen haben weder das eine noch das andere. Die Wohlhabenden und Erfolgreichen haben beides. Die Anwendung des Slogans „mehr Transparenz auf Sozialleistungen“ ist folglich ein Aufruf, bestehende Machtasymmetrien zu verstärken. Andere exlusive Schattenplätzchen geraten dabei aus dem Blick.