Erstellt am: 25. 10. 2009 - 22:15 Uhr
Journal '09: 25.10.
Ich fahre grade von München (FM4-Fest) nach Graz (Elevate). Und lese im Zug. Deutsche Medien.
Seit Wochen wird ein Interview Satz des SPD-Politikers Thilo Sarrazin durch alle Medien gezogen und ihm höchst Unterschiedliches entgegengebracht. Aufmerksamkeitstechnisch war das im hochklassigen Lettre International erschienene Gespräch also ein echter Smash Hit.
Der ehemalige Berliner Finanz-Senator (=Stadtrat) Sarrazin sagt da, recht offenherzig, eine ganze Menge interessante Sachen (seine Expertise für diese Berlin-Spezialausgabe des Lettre ist auch unbestritten) – aber es blieb (in der Sekundärverwertung) letztlich nur die eine große Hookline über. Zitat: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“
Die Reaktionen waren aufgelegt: einerseits warf man Sarrazin natürlich Tabubruch vor, andererseits wurde er als der, der sich’s zu sagen traut abgefeiert.
Hier ein Reality Check des ARD-Magazins Fakt im tendenziösen "Man wird's doch noch sagen dürfen!"-Stil.
Und hier, im trüben „Endlich sagt‘s einer!“-Rezeptions-Tümpel, wird’s problematisch und interessant. In der Samstags-Ausgabe der Süddeutschen bringt es Stephan Speicher auf den Punkt.
Die "Endlich sagt's einer!"-Falle
Die Speicher-Analyse erscheint ganz selbstverständlich im SZ-Feuilleton, also dem Kulturteil. Das ist nämlich der Platz für Kultur- und Gesellschaftskritik oder auch Analyse was öffentliches Verhalten betrifft, nicht der alerte Politikteil der Medien und auch nicht der Kommentar-Platz. Die Deutschen wissen das, Österreich versteht da, qualitätszeitungsmäßig nur Bahnhof.
Der thematisiert nämlich die in ihrer verkicherten Häme so strukturkonservative klammheimliche Freude am Reinsagen. In Deutschland existiert das, durch die Tradition von Strauß und Co als Brandbeschleuniger der Reaktionären, in Österreich hat sich dieses lauernd-lockende „Man wird ja noch sagen dürfen, was sich der kleine Mann denkt!“ als bestes Antriebsmittel der Rechtspopulisten erwiesen.
Dumpfe Dünkel auszusprechen und sich dann hinter einem latent vorhandenen, aber letztlich zum Mittel der bewußten Instrumentalisierung zusammengezimmerten Konstrukt zu verstecken (jederzeitige augenzwinkernde Zurücknahme inklusive) funktioniert in jeder schlecht entwickelten Demokratie.
In Deutschland, einem diesbezüglich besseren, weil in einer entscheidenden Phase seriöser entnazifizierten und strukturell aufgepäppelten demokratischen Gesellschaft führt ein solches Verhalten dann aber nicht, wie hierzulande, zu schrillen Abtäuschen drüber, wer jetzt arg und wer jetzt noch ärger ist, sondern auch zu einem Hintergrund-Check.
Etwas das uns, unseren Medien, unserer Einstellung fehlt.
Verkicherte Häme
Österreich, sagt der irgendwie witzig klingende Geschichts-Prof William Johnston, der wegen Nationalfeiertags und seinem Buch „Der österreichische Mensch“ in der Kleinen Zeitung interviewt wird, „Österreich braucht eine neutralere, weniger streitsüchtige Debatte um seine Merkmale, seine Stärken und Schwächen, mehr Distanz wäre erforderlich.“
Johnston weiß warum die fehlt: weil es die erste echte Aufarbeitung der eigenen Geschichte erst rund um den 1. Weltkrieg gab, viel zu spät um den Schock des Absturzes auf ein Schnitzel-Kernland im Jahr 1918 vorzubereiten.
Aber zurück zu Stephan Speichers SZ-Analyse.
Er nimmt das her, was Mr. G’scheit, nämlich Peter Sloterdijk aktuell im konservativen Renommier-Blatt "Cicero" zu sagen hat. Der hält da ein Plädoyer für die Freiheit“, gegen sterile Unterwürfigkeit, allzuviel PC-Rücksichtnahme und ein öffentliches Wort, das zuvor in Desinfektionsmitteln baden müsse.
Alles natürlich am Sarrazin-Sündenfall aufgehängt.
Konservative Kulturjammerei
Sloterdijk sieht das als Akut-Problem unserer Zeit, gibt der Sozialdemokratisierung der Gesellschaftspolitik die Schuld.
Sloterdijks Anwurf hinterlässt das Gefühl, dass derlei früher anders und besser gehandhabter wurde. Und Speicher tut nichts anderes als ein Essay von John Stuart Mill herzunehmen, der 1859 mit ganz ähnlichen Argumenten eine ganz ähnliche Klage führte.
Schöner kann man konservative Kulturjammerei, die so tut als würde sie etwas neu entdecken und doch nur älteste Muster nachzeichnet, nicht aushebeln.
SZ-Speicher ist es dann, der den – in meinen Augen – wesentlichsten Satz in der ganzen bisherigen Sarrazin-Debatte sagt, weil er einen Schritt zurücktritt und die Aufgeregtheiten der Aufreger aller Richtungen miteinbezieht.
Nein, es handelt sich bei dem im "Lettre" nebenbei rausgehauten Spruch, sicher einem der Jahreshits ("Kopftuchmädchen" wird in der Liste der Worte des Jahres sein, oder in der der Unworte, jede Wette...) nicht um das Ansprechen einer wilden Wahrheit, die sonst verheimlicht werden würde. Off und auch on records wird derlei ununterbrochen ausgesprochen.
Das Wehetun gegen andere
Der Punkt ist: Sarrazin spricht es so aus, dass es die Betroffenen kränkt.
Die Deutlichkeit der Ansage besteht, da wird Jacob Burckhardt zitiert, „im Wehetun gegen andere.“ Und der simple Zusatz einer aggressiven Note zu längst als Allgemeingut erkanntem, ist alles Mögliche, aber sicher keine Heldentat.
Das ist das Fazit der SZ-Analyse und könnte auch hier das Ende sein.
Ich befürchte aber, und vielleicht ist es nur die österreichische Sicht, die mich da antreibt, dass es so einfach nicht ist.
Denn mir stellt sich in diesem Zusammenhang eine andere Frage: wieviel Aufmerksamtkeit erreicht denn das, was sich der US-Professor Johnston wünschen würde, also die "neutralere, weniger streitsüchtige Debatte"?
Wer - und hier ist es egal, ob Öffentlichkeit oder Medien - ist bereit die dann wahrzunehmen?
Die sogenannten "großen Themen" werden mittlerweile ausschließlich via Skandal-Kommunikation verhandelt. Nicht dass ich das gutheiße - aber diesen Fakt zu ignorieren geht einfach nicht.
Die Herrschaft der Skandal-Kommunikation
Beispiel: wenn sich hunderte Experten und andere Eifrige zum Thema Bildungs/Unireform den Mund fusselig reden, kommt genau nichts in Gang, die Mainstream-Medien wenden sich gähnend ab, die Mainstream-Menschen drehen den Arsch bei, an dem ihnen das vorbeigeht.
Wenn es dann an sich banaler Aktionismus ist, der die diesbezügliche Debatte wieder ankurbelt, und Medien, Menschen und dadurch auch die Handlungs-Verantwortlichen dazu zwingt sich zu beschäftigen und miteinander zu reden, dann ist doch wohl klar, wie sich alle die was erreichen wollen, verhalten werden.
Wohlgemerkt: der Sarrazin-Fall ist nicht so entstanden.
Da wurden recht spezialistische Aussagen, die ausgeufert sind, herausgepickt und in einer medialen Zweitverwertung bewußt inszeniert. Aber auch hier steht das Wissen über die Funktion unseres medialen Denkens und Handels im Vordergrund.
Aber der Hinweis auf die Schmutzigkeit dieser Instrumentalsierung, auf den üblen Kloaken-Odeur der "Endlich sagt‘s einer!“-Ressentiments, auf die Unterschiede zwischen sachlichem Diskurs und bewußter Beleidigung (die ein ebenso absichtlich gesetzter Tür-Schließer bei Dialogen ist) allein nützt nichts.
Solange es nämlich der Mehrheitsgesellschaft und vor allem den Medien nicht gelingt jenen die sich Gehör verschaffen müssen/wollen kein anderes Tool in die Hand zu geben als die hysterische Skandal-Kommunkation.
Wenn man weiß, dass es anders nicht (oder kaum) geht - wer kann/soll/darf einem einen Vorwurf machen?
Solange der Diskurs, die Medien so wenig tiefgehend funktioniert, ist der Sarrazynismus, egal ob absichtlich oder unabsichtlich, das logische Produkt eines Systems, das gar keine anderen Resultate zeitigen kann.