Erstellt am: 25. 10. 2009 - 13:13 Uhr
Vlog #3: Brustfleisch und Kotwurst
Ich bin in einer Bredouille (schönes Wort, lange nicht mehr verwendet). Zum einen will ich euch treuen Lesern und Leserinnen meines Viennale-Journals frisch aus Leib und Seele geschneiderte Eindrücke von diesem, unserem Filmfestival kredenzen, euch mit Bonmots und Anekdoten erfreuen. Zum anderen habe ich einige bis viele der ausgewählten Filme bereits gesehen, tauche also demnach nicht mehr ein in die Gartenbaukino-Vorglühmasse, reibe meinen Körper nicht mehr an dem von anderen, tauche nicht mehr unter Bierflaschen und Sektflöten durch in den Kinosaal hinein.
Ich lüge schon wieder. Ich lüge sehr oft. Und das tut mir Leid.
Natürlich sehe ich auch viele Filme hier zum ersten Mal. Aber eben nicht Werner Herzogs "The Bad Lieutenant Port of Call New Orleans", wobei ich annehme und inständig hoffe, so denn Gott vernünftig ist, dass viele von euch in diesem Zentralfilm zur amerikanischen Befindlichkeit gesessen sind. Gestern Abend. Insofern remixe ich mich nun selbst. Ja, ich nehme mir die Freiheit heraus, meinen am 7. September just nach der Weltpremiere des Films am venezianischen Lido veröffentlichten Text in dieses Journal hinein zu kopieren. Ich putze mein Brillenglas und warte auf eure Reaktionen.
The Bad Lieutenant
Entgegen monatelangen Spekulationen und einer brodelnden Gerüchteküche ist "The Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans" keine Renovierung von Abel Ferraras fast gleichnamigem Psychodrama-Meisterwerk mit Harvey Keitel. Und mal ehrlich: wer auch nur irgendeine Ahnung davon hat, wie Herzog funktioniert, denkt und arbeitet, hätte wissen müssen, dass er kein Remake drehen wird.
splendid/fox
Nicolas Cage spielt darin den Lieutenant des Titels und damit die Rolle seines Lebens: weil der deutsche Regisseur jeden Schauspieler nicht nur physiognomisch, sondern auch charakterlich passend zur Rolle aussucht, spielt Cage - für mich schon seit geraumer Zeit eines der unvergesslichen Gesichter Hollywods, vor allem seit er begonnen hat, vorwiegend in B-Filmen aufzutreten - manisch, depressiv, schwitzend, exzessiv, körperlich. Wie ein Gespenst schleppt er sich durch Herzogs fiebriges Paralleluniversum eines kaputten New Orleans nach dem Hurrikan-Desaster, das im Zentrum der kaputten USA wie ein Herz auf Speed schlägt.
Der verrückte Cop nimmt Kleindealer hoch, lässt sich von einer jungen Frau den Crack-Rauch in die Kehle blasen, bevor er Schüsse in die Luft feuert und lachend von dannen zieht. Im Zentrum seiner irrlichternden Ermittlungen steht der Mord an einer sechsköpfigen senegalesischen Immigrantenfamilie: je mehr er darüber herausfindet, desto schneller lösen sich die durchlässigen Grenzen der Vernunftwelt auf.
Viennale
Herzog und Mark Ishams pumpender Score-Teppich löst – beinahe unmerklich – das Unbegreifliche aus dem scheinbar Alltäglichen heraus, stellt die Absurdität, Wahnsinnigkeit und schiere Demenz dessen aus, von dem die humanitäre Katastrophe im Post-Hurrikan-New Orleans nur ein, aber ein für die westliche Welt deutlich verständliches Symptom ist. Der irre Leutnant, der bei seinen Ermittlungen auf Iguanas und winkende Krokodile trifft, ist ein Produkt seiner Umgebung, die Umgebung ist ein Produkt seiner Psyche. Herzog castet brillant, lässt Göttin Fairuza Balk in einer unvergesslichen Sequenz als Highway-Polizistin, Xzibit als Unterwelt-Gentleman, Eva Mendes als Edel-Prostituierte auftreten, während Cage schnupft, spritzt und inhaliert, was immer er finden kann. In einer klimaktischen Sequenz dieses mäandernden Meisterwerks gibt es einen Schusswechsel in Zeitlupe: am Ende steht der Cop in der Ecke, auf dem Boden tanzt ein farbiger Gauner Breakdance. Cage schreit: "Shoot him again! His soul is still dancing!"
PS
Kalibos
Irgendwie sitze ich immer noch mit offenem Mund auf meinem Plastikstuhl. Ich frage mich, wie Werner Herzog es geschafft hat, in diesem Jahr nicht nur einen, sondern auch noch einen zweiten Film (den großartigen "My Son, my Son, what have ye done?") fertig zu stellen. Ich erinnere mich an mein Interview zurück: da hat er mir von seiner Idee einer Schurkenfilmschule erzählt. Heute ist die Rogue Film School schon Realität. Das erste Seminar wird im Januar 2010 in Los Angeles stattfinden. Herzog wird den angenommenen Bewerbern dabei keine Einführung in das Filmemachen geben; er wird ihnen – was viel wertvoller ist – einen Einblick in seine Welt geben. Die Physis, das Athletische des Filmemachens stehen ganz oben auf dem Stundenplan: der bayerische Regisseur wird die existenzielle Dimension seines Schaffens vermitteln, wird die Studenten anhalten, zu gehen, stundenlang, um so einen neuen, einen ganz intimen Zugang zur Welt zu bekommen. Ich bin traurig und hoffe, dass Herr Herzog eine ähnliche Veranstaltung auch Wien abhält. Ich würde all mein Geld zusammenkratzen und teilnehmen.
Home Movie
Ich denke kurz an die Malaise des amerikanischen Gesundheitssystems: ein älterer Herr mit weißem Vollbart und zu wenigen Zähnen im Mund steht im Metro Kino und hält eine dadaistische Einführung in das folgende Kurzfilmprogramm. Ich kenne Mike Kuchar, auch seinen Bruder George. Urgesteine des New Yorker Undergrounds sind sie: haben mit Jack Smith und Andy Warhol und Kenneth Anger geredet, gearbeitet, gesoffen. Mikes formidablen SF-Einstünder "Sins of the Fleshapoids" habe ich mir irgendwann mal auf DVD gekauft. Homebrewed Cinema ist das; gemacht von zwei Burschen, die schon im Alter von 13 Jahren Filme gedreht haben.
Viennale
"I Was A Teenage Rumpot" heißt einer: zu 50s-Schlagern prügeln sich grotesk überschminkte Frauen in einer Wohnung. Halte die Pose: der Stummfilm, die weit aufgerissenen Augen, die expressive Mimik sind eine Referenzeinheit, die durch die Arbeiten von den Kuchars geistert. Sie haben das Kino aufgefressen, sind als Kinder und Jugendliche andauernd in den “Palästen” gewesen, in der Dunkelheit und haben auf das Licht gestarrt. “War of the Worlds” und “Imitation of Life”; Keaton und Myrna Loy; der Schund und das Hochproduzierte. Alles gibt sich in diesen liebevollen Filmen die Hand.
Viennale
Besonders beeindruckt bin ich von "The Craven Sluck": der Hausfrauentraum vom glitzernden Leben, vom Tanzen im Blitzlichtgewitter, exekutiert von einer expressiv aufgerüschten, drallen Blondine, die ihren schmerbäuchigen Ehemann für einen jungen Wilden links liegen lässt. Im Bauch von Hollywood fügt sich der campige Melodramen-Aufbau nicht seinem dramaturgischen Schicksal, sondern franst aus ins Untergriffige und Vulgäre (unvergessen: zum Liebeslied auf der Tonspur sieht man einem Köter eine Minute lang zu, wie er auf die Straße scheißt), letztendlich auch ins Surreale und Fantastische. Da die Malaise dieser glückssuchenden Göttin nicht zu lösen ist, wird sie bei einem Angriff von Außerirdischen mit einer Laser-Pistole in Luft aufgelöst. "The End" steht da und eine Stimme setzt an:
God knows what he is doi… Ahhhh
Fett
Ich fühle mich schlecht. Obwohl ich Brüste und Kotwürste gesehen habe. Das macht mich sonst immer glücklich. Da bin ich wie John Waters. Aber ich schmecke noch das Fleisch zwischen meinen Zähnen, sehe mir selbst dabei zu, wie ich mir eilig und hastig einen Burger in den Mund schiebe. Kauen und schlucken. Aber es ist auch eine Frechheit: seit Jahren ermuntere ich die Organisatoren der Viennale, all jenen, die nicht täglich auf irgendein Gala-Dinner eingeladen werden, bitte die Möglichkeit zu geben, sich während der Festivalzeit so zu ernähren, dass man während dem "Antichristen" nicht an einem Herzinfarkt drauf geht.
Radio FM4/Roland Gratzer
Ein frischer Obstsaft, ein Brot mit Kresse oder Gemüse, von mir aus auch Schinken. Aber nein: im Metrokino liegen nur Schokoriegel aus und rufen mich. In der Urania gibt’s gar nichts, lediglich im Gartenbaukino könnte man sich zum überteuerten Preis ein kleines Sandwich kaufen. Die Auswahl: vegetarisch oder Salami. Ich sterbe. In Rotterdam kann ich dabei zusehen, wie die Orangen in der monströsen Maschine ausgepresst werden, bevor ich sie als Saft in einem Glas in die Hand gedrückt bekomme. Dafür zahle ich gern, bevor ich eine leckere Gemüsesuppe esse. Für zwei Euro. Also: wenn ihr, geschätzte Leser und Leserinnen eine Empfehlung habt: her damit!
Alles ändert sich nicht
Ich fühle immer noch das Fett in meinem Magen arbeiten: er bläht sich auf wie ein Ballon. Ist das die richtige körperliche Verfassung, um sich "Ne Change Rien" (eigentlich eine passende Klammer für diesen Tag) anzusehen? Vermutlich nicht. 23:00 Uhr; Stadtkino. Vorab: wenn das jemand lesen sollte, der in diesem schönen, traditionsreichen, immer unterstützenswerten Haus arbeitet, dann bitte ich darum, das rechte Notausgangslicht während der Vorführungen zu verdunkeln, vielleicht mit einem schwarzen Stück Samt zu verkleiden. Denn in der zweiten Sitzreihe Mitte werde ich die vollen 105 Minuten dieses Musikfilms davon angeblendet: als hätte jemand das Display seines Mobiltelefons eingeschaltet. Ahja: ich hasse Leute, die während Filmen wie belämmert auf ihrem Handy herum drücken. Entweder man schaut auf die Leinwand oder man verpisst sich. Denn das hat Jeanne Balibar nicht verdient.
Viennale
Ich kenne sie als Schauspielerin, habe sie in Olivier Assayas "Clean" gemocht. Der Portugiese Pedro Costa zeigt sie jetzt als Sängerin, als Chanteuse, gefasst in atemberaubend schöne, schwarz-weiße Bildkompositionen. Die Lichtsetzung lässt den Probenraum wie eine Theaterbühne wirken: Lampen blinken, Gitarrenkörper reflektieren, vorne steht die Balibar und haucht, singt, dichtet in das Mikrofon. Umwerfend. Costa zeigt sie anfangs bei einem Konzert, lässt die Balibar einen ihrer Songs durch das Kino singen. Dann kommt die radikale Dekonstruktion der romantischen Anmutung: es wird anstrengend.
Viennale
Auch für die Zuseher. Mit ihrem Gitarristen übt sie Rhythmen und Akkorde, immer und immer wieder. Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Das Lied heißt: Cinema. Eins, zwei, drei, vier. Ich bin knapp davor, zu gehen, schäme mich aber für meine Inkonsequenz. Das kommt sicher vom Fett-Essen. Ich bleibe sitzen, langweile mich, verfluche den Regisseur und verliebe mich in Balibar. "Ne Change Rien" ist kein guter Film: er ist streng, kühl, griffig, klug, fast unantastbar. Aber er ist zu lang: nach einer Stunde habe ich das Strukturprinzip verstanden, Costa hat mir nichts mehr zu erzählen. Nicht mal die Wirkung der Balibar kann das wieder wett machen. Aber "Ne change rien" hat mir etwas geschenkt: neue Musik für meine Ohren.
Gegen 1:30 Uhr bin ich zu Hause, werfe meinen Laptop an, öffne meinen Musikladen und kaufe eines ihrer Alben. Ich rauche und höre sie singen. Schöner kann ein Viennale-Tag nicht enden. Danke dafür.