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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

24. 10. 2009 - 16:27

Vlog #2: A Guy called Tilda

Die Viennale ehrt Tilda Swinton.

Ich fühle mich komisch. Beobachtet und ausgestellt. Erschlagen von originaler und nachgebauter kaiserlich-königlicher Romantik, vom Pomp & Prunk, von der Gedecktheit der Farbpalette, die aus allen Richtungen in meinen Augapfel schimmert und leuchtet. Mein Weg aufs Klo ist flankiert von berühmten Visagen, die eingerahmt auf die ähnlich Reichen und vergleichbar Erfolgreichen herabschauen, wie die Ahnenporträts in Herrenhäusern über die Nachfahren und das Familienerbe wachen. Ich denke: war David Lynch schon jemals hier im Hotel Sacher? Es ist ein Erlebnis, ein Event, ein bisschen wie Disneyland. Und das Klopapier ist schwarz. Wie edel. Wie unpraktisch. Woher soll man wissen, ob man sauber ist? Aber die Gäste dieses Hauses haben vermutlich persönliche Intimhygiene-Berater angestellt, die ihnen diese Aufgabe abnehmen. Während ich mir die Hände mit einem der hauchzarten und dennoch reißfesten Tücher abtrockne, die neben den dunklen Waschbecken sauber aufgereiht stehen, bemerke ich, dass es mir unmöglich ist, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie Tilda Swinton aufs Klo geht.

Engel

Viennale

Tilda Swinton als Erzengel in der Comic-Verfilmung "Constantine" (2005)

Gestern bin ich schon dafür kritisiert worden, wie unreflektiert und bedingungslos hingebungsvoll ich über Her Tildness schreibe. Ganz so, als wäre ich als Berichterstattender dazu verdonnert, mich nicht verzaubern zu lassen. Ganz so, als müsste ich diese britische Göttin aufschneiden und ausweiden, ihren Glanz und ihre Aura relativieren. Nein: ich nehme mir die Freiheit heraus, mich zu unterwerfen.

Geburt

Sie, die 1960 in einen der ältesten schottischen Clans hinein geboren wird; Sie, die dasselbe Privat-Internat besucht wie Diana Spencer und in einer Welt ohne materielle Sorgen aufwächst; Sie, die als 23-jährige ihre Studien der Soziologie und der Politikwissenschaft erfolgreich abschließt. Tilda Swinton beginnt wie viele Schauspielerinnen am Theater: die über 1,80 Meter große Rothaarige zeigt sich unter anderem in Aufführungen von Pushkins „Mozart und Salieri“ und Manfred Kargers „Man to Man“ (basierend auf seinem Stück „Jacke wie Hose“) in Männerrollen. Sexuelle Ambivalenz und ein lustvoller Umgang mit Geschlechterrollen prägen die schauspielerische Arbeit von Tilda Swinton. Obwohl sie selbst sagt, dass sie nicht spielt, sondern immer nur ist.

Im Interview erzählt sie mir davon, wie sie als 13-jährige mit dem Zug gefahren ist und keiner der anderen Fahrgäste etwas von ihrer Traurigkeit bemerkt hat. Das sei der Moment gewesen, an dem sich für sie alles geändert hat. Das Tilda-Kind hat sich dann die anderen Menschen im Zug angesehen und bemerkt, dass auch sie keine Ahnung davon hat, wie sie sich gerade fühlen. Alle Reisenden tragen Masken, sie schützen sich davor, ihr Innerstes nach Außen zu kehren. Swinton macht das in ihren Filmen, in ihren Rollen.

Tilda Swinton

AP

Tilda Swinton bei einem Berlinale-Auftritt

Liebe

Am Anfang steht Derek Jarman: mit dem britischen Künstler verbindet Tilda Swinton eine platonische Liebe. Bis zu seinem Tod im Jahr 1994 tritt sie in allen von seinen Filmen auf. Ich erinnere mich noch sehr gut an die in Holztexturen und dunkel-oranges Licht getauchte Maler-Biografie ""Caravaggio" (1986): Swinton hinterlässt bereits in ihrer ersten Filmrolle einen kräftigen Eindruck. Ihre porzellanartige Haut und die aristokratische Anmutung ihrer Haltungen und Gesten reiben sich an der Ärmlichkeit des Milieus.

Jarman hat sich in seinen Filmen immer auch selbst inszeniert, sich in Bezug gesetzt zu anderen Kreativen und Wilden, die am Rande der gesellschaftlichen Akzeptanz ihre jeweiligen Visionen in die Tat umgesetzt haben. Seine Freundin Tilda wird zum anderen Ich von Jarman: kein Zweifel, dass die Britin aufgrund ihrer androgynen Erscheinung beim Betrachter uneindeutig in ihrer Geschlechtlichkeit wirkt. Mann und Frau, das ist sie. Kein Platz für ein Oder. Keine Notwendigkeit für eine Entscheidung. Nur Sein. Swinton hat einen festen Platz in der Jarman-Familie: auch heute noch kehrt sie regelmäßig dort hin zurück, trifft ihre Freunde, arbeitet mit ihnen. Swinton lebt mit ihren beiden Kindern in den schottischen Highlands: privat ist sie liiert mit den Malern John Byrne und Sandro Kopp.

Gesellschaft

Gestern Abend also stehe und warte ich gemeinsam mit meinem Freund vor dem Gartenbaukino auf ihre Ankunft. Die Viennale hat zu einem Abend In Honour of Tilda Swinton geladen und zeigt Sally Potters ""Orlando"" (1992) in Anwesenheit der Hauptdarstellerin. Das Foyer ist, wie schon am Eröffnungsabend davor, voller Menschen: für mich hat diese Atmosphäre immer einen religiösen Anstrich. Wie in der Kirche versammelt man sich, wartet auf das zu Erwartende, man blickt auf, blickt nach oben, hin zur Leinwand, zum Himmel. So ungefähr. Ich werde schon wieder theatralisch. Üblicherweise habe ich keinen Hang zum Dramatischen.

Die Kameramänner sind nervös: was für ein schrecklicher Beruf das sein muss. Diese Anspannung, diese Erwartungshaltung, dieser Druck, ein gutes Bild zu bekommen, von einer Person, die an einem vorbei geht. Dauernd im Dunstkreis des Scheins zu stehen, zwischen Sektflöten und Koksspiegeln. Und dann: abdrücken, schießen, um alles Geld der Welt. Wie ein schneller Fick. Rein, raus, kommen! Danke, auf Wiedersehen. Auf allen Filmfestivals der Welt müssen die Fotografen vor Beginn der Vorführung die Veranstaltung verlassen: ihre Aufenthaltsgenehmigung ist dann abgelaufen, wenn der Lichtkegel erloschen ist, der Stargast sitzt.

Politik

Der Saal ist unruhig, unfokussiert. Die Energien kreisen: man merkt, jeder will sie jetzt sehen, riechen, fühlen. Meinen Freund und mich haben sie in die 31ste Reihe gehockt. Weiter vorne sitzen vermutlich die Sponsoren. Hätte ich doch mein Fernglas mitgebracht. Fail! Tilda Swinton trägt ein schwarzes Kleid: keine Farbe, ein Seinszustand. Sie gibt sich bewegt vom aufbrausenden Applaus, den vereinzelten Pfiffen und verzückten Rufen im Gartenbaukino. Hans Hurch begrüßt seinen Stargast von der Bühne herab; Her Tildness sitzt am mittleren Platz der Fußfreireihe. Mein Bein ist mir eingeschlafen, ich stehe auf und schüttle es aus. Die Sitznachbarn tun so, als sähen sie mich nicht. Aber ich spüre ihre Verachtung, da ich die Ruhe störe. Es tut mir Leid.

Poesie

Ja, ich liebe diesen Film. "Orlando" ist nach wie vor die beste Arbeit der britischen Regisseurin Sally Potter: eine ultimativ filmische Adaption von Virginia Woolfs gleichnamigem biografischen Roman mit ordentlichen Schlagseiten in Richtung Tanz-Performance und Theater. Die Geschichte des Adeligen Orlando, der vierhundert Jahre lang (von 1600 bis 2000) lebt, liebt und leidet. Eine witzige und gewitzte Variation auf die steifen Kostümdramen, die, wie Frau Swinton später erwähnt, zur Entstehungszeit von „Orlando“, also 1992 bereits aus der Mode waren.

Mann

Viennale

Tilda Swinton in "Orlando"

Der Film wirkt auf mich auch deshalb so stark, da die übliche Statthaftigkeit des Genres von der Geschichte untergraben wird: es geht weniger um Stände und Status als um die Abschaffung oder Umschiffung derselbigen. Orlando, der Poet, der Liebhaber, der Verstoßene, gleitet mit Tilda Swintons Gesicht durch die Jahrhunderte, die Episoden und Aufbauten dieses Films, wechselt am Weg Geschlecht und Kleidung, bleibt aber dennoch dieselbe Person. Ich reagiere zuweilen allergisch auf Kostümfilme mit ihren Beweis führenden Ornamenten, der Wegwerfästhetik aus Blattgold und Marmor. Bei "Orlando" stört mich das nicht, da Swintons Gesicht den Pomp und Prunk relativiert: sie ist das Gegenteil von aristokratisch. Persönlich, ehrlich, aufrichtig.

Tod

Das anschließende und die Veranstaltung beschließende Gespräch verärgert mich dann: die SZ-Kritikern Susan Vahabzadeh und Hans Hurch flankieren Tilda Swinton, die sich in der auf der Bühne errichteten Couch-Landschaft niederlässt und vorhersehbare bis überflüssige Fragen beantwortet. Wie kann man, gerade angesichts einer solchen Persönlichkeit, auf die Involvierung des Publikums verzichten? Wie kommt es, dass die Gespräche auf der Viennale immer wieder von "Experten" moderiert werden und man sich dauernd daran erinnert fühlt, wie viel eloquenter und wissender ein Großteil des Publikums wäre? Es ist eine ausgesprochen österreichische Frechheit, der Öffentlichkeit das Wort und die Mitsprache zu entziehen und stattdessen auf die Filmkritiker/Kuratoren/Theoretiker-Inzestdatenbank zurückzugreifen: das Resultat war ein unlebendiges, fades Gespräch, das sich keinen Deut über das Erwartbare hinaus bewegen konnte.

Sex

Früher an diesem Tag stehe ich vor einer Suite des Hotel Sacher: drinnen verabschieden sich gerade ORF-Redakteure, draußen galoppieren meine Gedanken, Fragen, Ideen im Kreis. Ich will nicht anbiedernd wirken, will aber anbeten. Man bittet mich hinein. Da sitzt sie auf der Couch. Ein schwarzes Kleid. Diese Frisur. Diese Höflichkeit. Sie lächelt, gibt mir die Hand (OH!), wartet auf die erste Frage. "So, you like donkeys?" "Oh yes, I do!" Ich reiche ihr meine DVD von Robert Bressons "Au hasard Balthazar", einer von Tilda Swintons Lieblingsfilmen. Sie signiert. Endlich habe ich begriffen, wieso ich ihr so verfallen bin. Wie Orlando scheinen in ihrer Gestalt, ihrem Gesicht, ihren Blicken und Worten Jahrhunderte eingeschlossen zu sein: ganz unbemüht und unverkrampft. Sie ist Kommunistin und Aristokratin, weit entfernt und ganz nah gleichzeitig. Der meterhohe Raum wird durch sie zu einem kleinen gemütlichen Wohnzimmer, in Anwesenheit von Tilda Swinton wird das Sacher zu irgendeinem Hotel. Ich blicke auf ein Tableau Vivant und muss lachen: über mich selbst und über das schwarze Klopapier.