Erstellt am: 24. 10. 2009 - 10:01 Uhr
Engel mit Abgründen
Unlängst ist es passiert. Ich habe einen Film von Michael Haneke gesehen, der den üblichen Vorschusslorbeeren wirklich gerecht wurde.
"Das weiße Band" strahlte eine Faszination aus, die auch Tage nach dem Kinobesuch noch nachwirkte. Dabei sind es nicht nur die streng arrangierten Schwarzweißbilder, die im ästhetisch so oft fragwürdigen Gegenwartskino gut tun, die fantastischen Kinderdarsteller, die tatsächlich spannende Geschichte.
Am beeindruckendsten fand ich, dass der Film weitgehend auf das verzichtet, was ich sarkastisch Haneke-Momente nenne. Da winkte früher beispielsweise mitten in den kaltblütigsten Augenblicken die Medienkritik mit dem Zaunpfahl. Und selbst bei den verstörendsten Angriffen auf die Zuschauerpsyche spürte man den warnenden, pädagogischen, aufklärerischen Zeigefinger des Regisseurs im Hintergrund.
Für manche Zuschauer mag diese spürbare Position des Filmemachers sogar ein Mehrwert gewesen sein. Und auch eine Versicherung, dass es der Mann, der in "Funny Games" oder "Bennys Video" so eisig die Fäden zieht, eigentlich gut meint. Ich empfand diese entlarvenden Haneke-Momente immer als frustrierend, platt, bisweilen ärgerlich.
Weil ich der Ansicht bin, dass sich das Kino und die Kunst im Allgemeinen, ganz im Gegensatz zur Politik, dem Irrationalen verschreiben muss, dem Undurchschaubaren, dem dunklen Geheimnis. Das Kino, würde Lars von Trier anfügen, ist sogar dann am radikalsten, wenn es ein Komplize des Bösen wird.
Wega Film
"Das weiße Band" ist unerwarteterweise so ein Streifen, der sich nicht mehr vollständig dechiffrieren lässt. Wer sich weltanschaulich in der Nähe des Regisseurs aufhält, kann zwar die verrohenden Erziehungsregime der im Film gezeigten Ära für die grausamen Spiele der Mädchen und Buben verantwortlich machen.
Aber im Grunde haftet den kindlichen Protagonisten und ihren sinistren Taten ein unauflösbares Mysterium an. Da funkelt etwas in den Augen der kleinen Sprösslinge, das an Abgründe denken lässt, vor denen auch Soziologen und Psychologen zurückweichen.
Nicht umsonst wurde "Das weiße Band" im manchen Kritiken mit Gruselklassikern wie "Village Of The Damned" (Das Dorf der Verdammten, 1960) verglichen. Das Horrorkino liebt es schon lange, das allgemeine Bild von der kindlichen Unschuld auf den Kopf zu stellen.
Picasa
Einer der erschreckendsten Filme diesbezüglich, der gänzlich auf Blut und Schockeffekte verzichtet, ist "The Bad Seed" (Die böse Saat) aus dem Jahr 1956.
Das schwarzweiße Schundprunkstück erzählt von der achtjährigen Rhoda, einem blonden Vorzeigemädchen mit Zöpfchen, das eine Vorliebe für ungewöhnliche Spiele hat. Da ertrinken dann schon mal andere Kinder, wenn sie zufällig in der Nähe sind, und Gärtner werden schulterzuckend abgefackelt.
Natürlich ist "The Bad Seed", der auch zu den Lieblingswerken eines gewissen Nick Cave gehört, ein völlig unverantwortlicher Film, in dem krude von einem angeborenen Bösen fabuliert wird. Schon die Buchvorlage von William March wurde deswegen kontrovers diskutiert.
Aber wenn man die ganzen Diskussion beiseite lässt, dann bleibt das selige Grinsen der süßen Rhoda übrig. Und in diesem Grinsen liegt ein Grauen, das mich an meine eigene Kindheit denken lässt, an sadistische Ausbrüche von Mitschülern in der Volksschule, an zerfetzte Froschleichen, aufgespießte Insekten, Spielplatzunfälle, die keine waren.
In einem gegenwärtigen Remake würde Rhoda ihre Taten wahrscheinlich mit dem Handy filmen und ins Netz stellen.
Luna Film
Keine Angst, auch wenn das jetzt traumatisierend klingt, unter meinen MitschülerInnen war keine Rhoda oder kein Damien aus "The Omen".
Aber Kinder sind einfach nicht immer die Unschuldsengel, als die sie oft verklärt werden. Und das Genrekino darf sich überzogene, extreme, versponnene Standpunkte erlauben - um zu unterhalten, aber auch, um auf fantasyhafte Weise mit der hart zu schluckenden Realität zu konfrontieren.
So sieht das wohl auch der junge spanische Regisseur Jaume Collet-Serra, der in seinem
Hollywood-Mystery-Thriller "Orphan - Das Waisenkind" von einem adoptierten Mädchen erzählt, das eine Vorzeigefamilie zerstört. Und zwar gründlich.
Eigentlich ist die neunjährige Esther ja ein ausnehmend begabtes Kind. Ihre Zeichnungen haben etwas Hochkünstlerisches, ihr Klavierspiel mutet perfektionistisch an. Höflich, zurückhaltend und gebildet wirkt die kleine Exilrussin, die von der amerikanischen Familie Coleman adoptiert wird.
Aber weil "The Orphan" ein handfestes Horrormovie ist, darf man der Traumtochter natürlich keine Sekunde trauen.
Luna Film
Ganz langsam, im Stil legendärer Seventies-Filme, rollt Jaume Collet-Serra zunächst die Geschichte auf. Wir lernen die Schattenseite der sympathischen Familie Coleman kennen, erfahren vom Verlust eines ungeborenen Kindes, vom Alkoholproblem der Mutter, von den Rissen in der gutbürgerlichen Fassade.
Potential hat auch die Besetzung. Mit Vera Farmiga und Peter Sarsgaard schlüpfen zwei tolle Charakterdarsteller in die Elternrolle, Isabelle Fuhrman spielt das spooky Waisenkind Esther diabolisch.
Aber hier beginnen leider auch die Probleme. "The Orphan" verschenkt das grimmige Porträt einer kaputten Bobo-Familie immer mehr für billige Schreckmomente, hektoliterweise Blut und schüttelt gegen Ende noch einen Twist aus dem Handgelenk, der den Film dann auch nur mehr teilweise rettet.
Und Irrationalismus hin oder her, bei einem Film, der im Alltag geerdet ist, verträgt man als Zuseher einfach nur einen gewissen Grad an Unlogik. Bleibt also ein gut gespielter, viel versprechender Horrortrip für Erziehungsberechtigte, der letztlich nicht überzeugen kann.
PS: Wer in Wien wohnt und einen wirklich fesselnden Schocker sehen will, sollte sich "Splinter" auf der Viennale ansehen. Der hat zwar rein gar nichts mit fiesen kleinen Kindern zu tun, verfügt auch über keinerlei politischen oder sozialen Subtext. Aber es gibt Spannung, Nervenkitzel, Grauen, Grusel, Angst geballt und in einem virtuosen Kammerspiel verpackt.