Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Getting it wrong, Teil 2"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

21. 10. 2009 - 21:51

Getting it wrong, Teil 2

Die einseitige Freiheit der britischen Presse - mit Anmerkungen zur Bedeutung der jüngsten Twitterstürme

Getting it wrong
Kulturelle Missverständnisse

Ich wollte zur Fortsetzung meiner Serie über kulturelle Missverständnisse ursprünglich ja ganz was Anderes schreiben, und zwar schon vor einer Woche. Aber dann kam schon wieder das Leben dazwischen, und nein, damit meine ich nicht nur die Befüllung diverser virtueller Stammbücher. Obwohl gerade darin sich schon auch so manch Interessantes abspielte, das sich selbst mit ein paar Tagen Verzögerung noch einigermaßen würdig weitererzählen lässt.

Also:

Let me tell you some more about cultural misunderstandings. Diesmal: Die britische Presse, das unzähmbare Biest.

Erst diesen Sommer hatte ich mich in Wien in einem Gespräch mit einem bei einer österreichischen Boulevardzeitung beschäftigten Mann wieder gefunden, in dem dieser ganz offen seinem Neid über die Freiheit der britischen Tabloids Ausdruck verlieh.

Diese Leute, meinte er, dürften offenbar alles schreiben. Und irgendwie, so ging die Ratio, ist dieses rabiate Selbstverständnis von Reportern, die ohne viel Scham für saftige Zitate bezahlen, falls sie sie nicht gleich frei erfinden, ein legitimer Preis für den höheren Unterhaltungswert und die freche Furchtlosigkeit der britischen Presse.

Die Wahrheit sieht allerdings wesentlich düsterer aus, wie letzte und diese Woche anhand zweier erstaunlicher Twitterstürme offensichtlich wurde, die die britische Printmedienwelt zum Erzittern brachten.

Quick Fry

Mein eigenes Stolpern darüber verdankte ich dem banalen Umstand, dass ich wie praktisch jedeR auf (und viele jenseits) dieser Insel, der/die Tweets liest, aber nicht die Tweets von Sarah Brown (derer von Gordon), die mehrmals täglichen Wortmeldungen von Stephen Fry zugestellt bekomme.

Und abgesehen von verzichtbaren Verweisen auf sein Lunch mit Ian Rankin oder seine diversen Erlebnisse mit den neuesten Gizmos erschloss sich mir aus Frys Tweets unter anderem auch jene Geschichte, deren öffentlicher Verlauf vorigen Montag mit einer mysteriösen Story auf der Titelseite des Guardian begann (oder genau genommen natürlich am Abend zuvor mit der Veröffentlichung von deren Netz-Version auf der Guardian-Website).

Da stand folgendes:

Zitat:

“Today's published Commons order papers contain a question to be answered by a minister later this week. The Guardian is prevented from identifying the MP who has asked the question, what the question is, which minister might answer it, or where the question is to be found.
The Guardian is also forbidden from telling its readers why the paper is prevented – for the first time in memory – from reporting parliament. Legal obstacles, which cannot be identified, involve proceedings, which cannot be mentioned, on behalf of a client who must remain secret.”

So weit so kryptisch.

Old School wie wir sind, haben wir erst einmal im Fernsehen den Parlamentskanal aufgedreht, um zu sehen, worum’s da wohl gehen konnte, da hatte Stephen Fry schon längst weitergetwittert, was ein Blogger Minuten nach Erscheinen der Guardian-Geschichte mittels Konsultierung der Unterhaus-Website herausgefunden hatte.

Grob gesagt und vermutlich wohlbekannt weil seither weltweit verbreitet, aber hier der Vollständigkeit halber noch einmal zusammengefasst:

Ein Labour-Abgeordneter wollte im Parlament den Fall der Ölfirma Trafigura thematisieren, die 2006 ein Schiff gechartert hatte, das an der Elfenbeinküste giftigen Abfall ins Meer entsorgt und damit rund 30.000 Menschen vergiftet (die im resultierenden Rechtsstreit genannten Symptome reichen von Durchfall und Atemnot bis zu schweren Hautproblemen), teilweise sogar getötet haben soll.

Die BBC hatte seither darüber berichtet und war mit einer Verleumdungsklage eingedeckt worden.

Im Dienste von Trafigura hatte die als Helfer der Reichen und Mächtigen in öffentlicher Not berüchtigte Anwaltskanzlei Carter-Ruck den Guardian mittels gerichtlicher Verfügung daran gehindert, über die parlamentarische Anfrage zu diesem Fall zu berichten, und im Anschluss daran noch eine Verfügung erwirkt, die es dem Guardian sogar verbot, über die Verfügung zu berichten. „super-injunction“ heißt sowas.

Zeitungsausschnitt Private Eye

Robert rotifer

Street of Shame, die verlässlichste Auskunftsquelle über die schmutzigen Geschäfte der britischen Printlandschaft, alle zwei Wochen im Satiremagazin Private Eye

Die Kunde dieser mit dem Prinzip der freien Presse kaum vereinbaren Vorgänge verbreitete sich wie gesagt mittels Twitter äußerst rasant, #trafigura führte gegen Nachmittag als trending topic in den Charts, und die nun mit einem PR-Desaster gigantischer Ausmaße konfrontierte Ölfirma ließ die Verfügung gegen den Guardian wieder zurückziehen.

Das Verleumdungsrecht auf der Seite der Kriminellen?

Am vorigen Dienstag veröffentlichte der Guardian also doch noch seine Story, und gestern brachte George Monbiot, der die Geschichte schon länger auf dem Kieker hatte, den eigenartigen rechtlichen Hintergrund dazu wie üblich ziemlich brillant auf den Punkt:

“Such are the perversities of this law that the English courts can be used by criminals to prevent exposure of their crimes. With average costs 140 times higher than those of other European countries, libel proceedings here can be defended only by people who have a lot of money and a lot of guts.”

Robert Rotifer

Aus dieser zornigen Analyse ergibt sich ein direkter Vergleich damit, was Kollege Martin Blumenau just am Tag der Verfügung gegen den Guardian hier über das Hüten des Herrschaftswissens in den österreichischen Medien schrieb.

Auch in Großbritannien gibt es jede Menge Herrschaftswissen, auf dem die Zeitungen wie paralysierte Legehennen sitzen bleiben, aber der Grund dafür, dass sie es bei sich behalten, liegt, wenn nicht in den Interessen ihrer mächtigen Eigentümer, dann erstaunlich oft in solchen Maulkorb- und Super-Maulkorberlässen, die Großbritannien längst zum Tourismusmagnet für paranoide VerleumdungsklägerInnen gemacht haben.

Wie aber geht das nun mit dem Ruf der britischen Presse als furchtloseste Furie des Boulevards zusammen?

Geldsache Pressefreiheit

Die Antwort liegt leider einzig im Vergleich der finanziellen und sozialen Stellung von Firmen wie Trafigura und jenen weniger Mächtigen, die täglich durch die Mühlen der Tabloids gehen. Wer sich Carter-Ruck nicht leisten kann (einer ihrer Kunden ist übrigens ein gewisser Liam Gallagher, gerade im Rechtsstreit mit, wem schon, dem Guardian), hat eigentlich nur die Alternative, einen faustischen Pakt mit Max Clifford einzugehen, der sich als mächtigster Mann der PR-Branche ganz offen auf den möglichst vorteilhaften Verkauf schmutziger Geheimnisse und medial verwertbarer Schicksale spezialisiert.

In jedem Fall bleibt die britische Pressefreiheit unterm Strich eine Geldsache.

Womit wir beim in den letzten Tagen lodernden zweiten britischen Twittersturm angelangt wären. Weder klagen noch Clifford engagieren kann nämlich die Gruppe der bereits Verstorbenen.

Unter ihnen Stephen Gately von Boyzone, der vor mittlerweile vier Tagen – eine Ewigkeit – von der Daily Mail-Autorin Jan Moir noch vor seinem Begräbnis in einer mit unterschwellig homophoben Reizworten gespickten Kolumne seines schwulen Lebenswandels wegen posthum eines schmuddeligen Ablebens bezichtigt wurde (“Why there was nothing ’natural’ about Steven Gately’s Death“).

Der liberale spontane Volkszorn der Twitterstürmer

Wieder war es Stephen Fry, der mich chronischen Nicht-Mail-Leser in entrüsteten Tönen davon in Kenntnis setzte, und wieder schnalzte das Thema an die Spitze der trending topics, Moirs Artikel erntete prompt eine Rekordanzahl von über 25,000 Beschwerden bei der Press Complaints Commission, Inserenten drohten der Mail mit dem Rückzug, und schon fanden sich reichlich Jubelstimmen, die die ultimative Leserbriefmaschine Twitter nach Trafigura und Moir als die Rettung des Guten und Ehrenhaften vor der verdrehten Welt der britischen Presse feierten.

Ich weiß ja nicht recht, bei all meiner Übereinstimmung mit der gemeinsamen Stimme der Twitterschaft klingt mir das zugleich doch auch eher unangenehm nach Volkszorn. Die Gar-nicht-mehr-so-Early Adaptors in ihren Millionen mögen sich ob ihrer kollektiven Macht gegenseitig die liberalen Bäuche pinseln. Aber auch Twitterstürme können sich drehen, womöglich auch gegen die Richtung, in die man pinkelt.

Unrecht kann aufgedeckt, journalistisches Unwesen getadelt, Maulkorberlässe hintergangen werden. Und wie der heutige Kanye West RIP-Massenwahn prompt erwiesen hat, können auch glatte Lügen extraschnell in Umlauf gebracht werden.

Das Anti-Jan Moir-Posting hab ich auf Stephen Fry’s Twitter-Site übrigens nicht mehr gefunden. Sehr wohl aber einen Link zu seinem Blog, wo er in sechs langen Seiten ausführlichst ausdifferenziert, was in 140 Zeichen nur als unzureichender, verbaler Affekt zu formulieren war.

Was zwei Fragen aufwirft:

Liest das dann auch noch wer?
Und schläft der denn überhaupt nie?