Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Einer muss den Job ja machen!"

Alexandra Augustin

West Coast, wahnwitzige Künste und berauschende Erlebnisse. Steht mit der FM4 Morningshow auf.

18. 10. 2009 - 10:38

Einer muss den Job ja machen!

Komm mir nicht mit Arbeitszeiten! Das neue Album der Goldenen Zitronen "Die Entstehung der Nacht" und wie es uns so damit geht.

Eigentlich wollte ich diese Geschichte zum neuen Goldenen Zitronen Album schon vor ein paar Tagen schreiben. Aber so ist das eben oft, da schummeln sich dann noch drei andere Interviews dazwischen, man steht plötzlich um vier Uhr in der früh im sogenannten Telefonkammerl, weil da noch diese und jene Band von der anderen Seite des Erdballs ebenfalls ein neues Album draßen haben und mit denen man sprechen will (und die nicht früher Zeit haben, weil sie eben nicht so viele Platten verkaufen und ihre day jobs vorm Interview noch schnell absolvieren müssen, um die nächste Tour zusammen zu kratzen).

sonntagsbraten

alexandra augustin

Das hätte ich heute essen können

Ehe man sich also versieht, ist man etwas ausgebrannt von einer Woche für die gute Sache, es ist Wochenende und eigentlich steht nach Monaten mal wieder Braten essen bei der Tante um fünf Ecken an. Ein kleines bisschen Realitätsflucht, gehäkelte Tischdecken, Lilienporzellan und Comic-Katzenmotive auf selbstbestickten Pölstern, you know?

Das musste ich heute absagen, die Zitronen warteten noch. Aber wer braucht schon ein Wochenende? Hey, wirst du dir denken. Was beschwert die sich hier in Zeiten wie diesen? Das sind doch Luxusprobleme!

Ich "darf" mich ja hinsetzen und etwas über eine tolle Platte schreiben, die du gerne hören möchtest, während du im Moment vielleicht total geschafft von der gestrigen Arbeit in irgendeinem halbseidenen
halb-Hausmannskost-halb Fushion Küche-Dings mit billiger und scheußlicher, auf Neumodern getrimmter Innenausstattung die Massen an dreckigen Teller und Gläser der hungrigen Meute mit Stylobrillen auf den Nasen abserviert hast, um noch schnell die Miete für's WG Zimmer zusammenzukratzen. Eben.

Vielleicht musstest du auch die letzten Tage nach der Uni, Samstag inklusive, in irgendeinem schwedischen oder spanischen Kleiderdiskonter die Kleidungsstücke wieder an ihren richtigen Ort zurückhängen, die verwöhnte Kids mit zuviel Taschengeld von den Stangen reissen und ignorant am Boden der Umkleidekabinen liegen lassen. Vielleicht bist du glücklicherweise mit ach und krach letzten Sommer schon mit deinem Grafikstudium fertig geworden und musst übers Wochenende noch schnell irgendwelche halblustigen Werbebanner für irgendeine Website für deine Grafikagentur, bei der du trotz Krise glücklicherweise über gute Beziehungen den einzigen freien Freelancerjob ergattern konntest, basteln.

Bevor die Müdigkeit dich heute entgültig in die Knie zwingt und dir der letzte Funken eigenständiges Denken für diese Woche abhanden kommt und du den Kopf voller Rosinen hast, besuche den Zitronen Supermarkt, investiere 12 Euro von deinem hart verdienten Geld in das neue Album der Goldenen Zitronen, "Die Entstehung der Nacht", und drücke auf Lied Nummer 10:

www.die-goldenen-zitronen.de

Die Goldenen Zitronen - "Die Entstehung der Nacht"/ Albumcover

Die Goldenen Zitronen

Einer muss den Job ja machen!
Eine muss den Job ja machen!
Einer und einer muss die Jobs ja schließlich machen!
Das glitzernde Zeug verkaufen
Nullcheckern vorauslaufen
Sprüche zusammen klauben
und hinterher auf den Haufen draufhauen!

Einer muss den Job ja machen!
Denk mal an die Möglichkeiten
komm mir nicht mit Arbeitszeiten!

Eine und Einer die sich nicht zu schade sind
und das Geld verdienen
und einen Teil versaufen
dass die Läden zur Inspiration weiterlaufen!
Auch wenns nicht mehr so dicke is,
schöne Dinge kaufen!

(Goldene Zitronen: "Lied der Medienpartner")

Die Goldenen Zitronen

Die Goldenen Zitronen

Komm mir nicht mit Krise

Erwischt dich die neue Platte der Goldenen Zitronen mit ihren Disharmonien, grollenden Synthieklängen, zerberstenden Rhythmen, sabotierten Instrumenten und überreizten, spitzbübischen Antiparolen so eiskalt am richtigen Fuß wie mich? Sie liegt bei mir seit Tagen am Plattenteller!

An dieser Stelle möchte ich jedem den großartigen Text über die Goldenen Zitronen von
Frank Apunkt Schneider im neuen Skug ans Herz legen.

Wieso ich also diese Geschichte nicht mit einer Aufzählung und Werkschau über die Zitronen und ihre letzten 25 Jahre, mittlerweile 10 Studioalben, Dokus, Hörspiele, Theaterwerke angefangen habe und keinen Weg des ehemaligen als Funpunk (das hab ich sogar noch Zuhause im Keller glaub ich...) abgestempelten Kollektivs bis hin zur Hochkultur nachzeichnen will, um dann überzuleiten, wie denn das aktuelle Werk in dieser Materialmenge einzuordnen ist?

Rainer Springenschmid hatte das Glück und war von Anfang an bei den Goldenen Zitronen dabei, man möge auch bei ihm seine Erinnerungen an alte Zeiten nachlesen!

Erstens, weil ich nicht dabei war. Damals in den 80ern war ich nämlich noch damit beschäftigt, mathematische Grundrechnungen zu lösen und das ABC fehlerfrei aufzusagen, damit's für ein goldenes Sternchen reichte.
Alles, was ich über die damalige Zeit, den Punk der 1980er in Deutschland weiß, weiß ich aus Erzählungen, Geschichtsbüchern und manchmal leider sehr eigenartigen Experimenten, diese Ära in Räumen der Hochkultur abzubilden. Für mich entdecken konnte ich die Goldenen Zitronen als Nachgeborene erst viel später, gegen Ende der 1990er. Seit den 2000ern waren sie dann aber treue Wegbegleiter in meinen Kopfhörern.

Zweitens, weil es die Goldenen Zitronen selbst es sind, die sich einer Positionierung und Verortung ihres Werkes stehts auch entziehen. Kaum eine Gruppe hat sich über die Jahre hinweg selbst so oft um die eigene Schaffensachse gedreht, neu orientiert, immer wieder alles und jeden in Frage gestellt.Vor allem sich selber. Ihr eigenes, engstirniges Punkumfeld samt Uniformierung in den 80ern mit eigenartiger Panier wie Blümchenhemden und jenseitigen Tönen genauso wie das Heute, Morgen und Übermorgen. Die eigene Position immer wieder neu definiert und in sich gebrochen, inhaltlich und musikalisch. Mittels Hip Hop, Elektonik, New Jazz, Bongos und Flöten und allem anderen das nicht niet- und nagelfest war und ist.

Nicht unspannend das Konglomerat an Gästen, die am neuen Album des Kollektivs mit an Board sind:
Melissa Logan (Chicks on Speed)
Michaela Mélian (FSK)
Peggy Kostaras (Buback)
Jakobus Siebels (JaKönigJa, Die Vögel)

Plötzlich neue Positionen
Die Fähigkeit zur Handlung
Und aus reinen Wünschen
springt überraschend frischer Anspruch

(Die Goldenen Zitronen: "Positionen")

Thomas ist so inkonsequent, MySpace-frei, undemokratisch

Das Hier und Jetzt und der Status Quo der Goldenen Zitronen und ihrer aktuellen Platte "Die Entstehung der Nacht" ist also spannender und wichtiger für mich. Und was bringt mir eine neue Platte der Goldenen Zitronen? Viel! Weil die Goldenen Zitronen es als eine der wenigen deutschsprachigen Bands verstehen, zeitgeistig zu agieren, anstatt sich hinter poppigen Melodien und heimeligen Sehnsuchtstexten zu verstecken, um uns, wie viele andere, eine Pseudorealität zu suggerieren.

Weil sie eine der wenigen Musikerkollektive sind, die mir innerhalb eines seichten, bitteren Einheitsbreies Geistesnahrung anbieten können. Und ich frage mich, genauso wie die Goldenen Zitronen wohl selbst, wieso das kein anderer tut. Wieso mir eine Gruppe, die doppelt so alt ist wie ich, Dinge erzählen muss, die eigentlich viel jüngere Kollegen reflexiv verarbeiten müssten, anstatt sich in einen zu nichts führenden Eskapismus zu verabschieden und lieber leichte Kost dahersummen.

Derweil der Silbermond sucht nach mehr Halt,
nach mehr Sicherheit.
Etwas das bleibt.

Ja, der Silbermond
in dieser schnellen Zeit,
sucht Beständigkeit,
die beim Alten bleibt.

(Die Goldenen Zitronen: "Aber der Silbermond")

Die Goldenen Zitronen

Die Goldenen Zitronen

Boris Jordan hat am
11. Oktober
"Des Landeshauptmanns letzter Weg" von den Goldenen Zitronen aus naheliegendem Anlass zum Song zum Sonntag erkoren.

Sind wir noch Selbstvertoner oder schon Bildschirmschoner?

Ich behaupte, eine Platte der Zitronen durchzuhören ist quasi die kleine Chance zur Selbstüberprüfung der eigenen Positionierung und durchputzen der Gedankenverläufe - wie ein menschlicher TÜV. Noch alles dicht? Mit dabei oder lebst du schon? Der eigene Geist schon absorbiert von einem übergeordneten System? Schon wieder biedermeierhafte Gedanken in der Birne, die leider ganz- und gar nichts mit den winterlichen Temperaturen zu tun haben?

Denn plötzlich ertappst du dich dabei, dass du an abgelutschten Fushion Kaugummis kaust, die angeblich nach Blackberries & Melone schmecken, während du den Jobbörsen-Account nach neuen Kontakten abcheckst und dir danach von deinem sauer verdienten Geld dein politisch korrektes Sweatshirt für die nächste Party zulegen gehst. Und du kriegst jetzt schon Panik, wenn du an Montag denkst, wo es wieder einen ganzen Tag dauert, bis du wieder schlafen kannst.

(Die Goldenen Zitronen: "Bloss weil ich friere")

Wenn du Glück hast und der/ die nächste Party-DJ eine/ ein gute/r ist, frage knapp nach Geisterstunde nach diesem altbekannten Song hier unten im Video. Zu den windschiefen Gesängen, Melodien und Takten der Zitronen kann man sich nämlich auch - heute wie schon immer - vorzüglich schütteln! Und das ist gut für's träge Gehirn und die eingerosteten Knochen vom zu lange am Schreibtisch sitzen.

Das großartige neue Album der Goldenen Zitronen: "Die Entstehung der Nacht" ist auf Buback erschienen.

Live in Österreich:

Wien/ Fluc/ 1.12.
Linz/ Stadtwerkstatt/ 2.12.