Erstellt am: 16. 10. 2009 - 10:36 Uhr
Entwickelt nach deutschem Geheimrezept
Ist ein Album, ein Film, ein Spiel in einer Besprechung in letzter Konsequenz nur etwas für Fans, weiß man sofort, was los ist. Ein Produkt, das ein derlei vernichtendes Urteil zugeteilt bekommt, wäre außer für die paar verblendeten Enthusiasten und pragmatischen Sammler für niemanden von Relevanz.
Bei "Gothic" war diese Kausalität jedoch schon immer in Frage gestellt. Da ist auf der einen Seite ein technisch haarsträubend zusammengestückeltes Computerspiel, das seine Konsumenten nicht selten in die Irre führt und sie harsch vor den Kopf stößt. Gleichzeitig liegt da bereits 2001 eine verblüffend glaubhafte, offene, lebendige, virtuelle Welt vor uns, in der Kämpfe mit hungrigen Wölfen und Orks uns emotional wilder mitnehmen, als wir es ihren blockigen Polygonen jemals zugetraut hätten.

Deep Silver
Jahre, Nachfolger und Erweiterungen ziehen ins Land und die räudige Landschaft von "Gothic" emanzipiert sich vom Geheimtipp zu einer deutschen Design-Besonderheit in Sachen Computerrollenspiele. Keine andere Serie wird in deutschsprachigen Games-Magazinen medial so aufgebauscht und abgefeiert, wohingegen sich der internationale Markt völlig unbeindruckt zeigt. Dass "Gothic" nie vernünftig die Landesgrenzen überschritten hat, ist der zu lange dauernden Übersetzung ins Englische und dem schwachen Vertrieb zuzuschreiben. Die Serie bleibt zunächst eine lokale Besonderheit.
Metal, Most und Mittelalter
Um das ambivalente Wesen von "Gothic" begreifen zu können, muss man zunächst die dahinter stehenden Entwickler kennen. Das Essener Studio Piranha Bytes ist ein überschaubarer, freundschaftlicher Zusammenschluss von nerdigen Herren im Alter zwischen 20 und 40, die sich in ihrer Freizeit vorrangig dem stählernen Triumvirat Metal, Most und Mittelalter widmen und dazu passende Spiele spielen wollen. Weil es diese in der gewünschten Ausrichtung nicht gibt, machen sie sie selbst, im DIY-Prinzip, mit konkreten Vorstellungen, kurzen Kommunikationswegen und genügend Ausdauer.
Bei "Gothic" werden von Anfang an keine Zahlen und Zuweisungen jongliert, sondern es wird dem Spieler eine namenlose, männliche Avatar-Hülle hingeworfen, die sie oder er fortan selbst mit Sinn befüllt. In einer Fantasiewelt darf gezaubert und teleportiert werden, allerdings ohne bunten Kitsch und tugendhafte Gestalten. Keine Figur ist eindeutig gut oder böse, doch allesamt sind sie klar in ihrer Sprache und zu jeder Zeit schlagkräftig. Zotige Bemerkungen, Kraftausdrücke und eine unmissverständlich geregelte "Ordentlich eins aufs Maul"-Hackordnung bettet sich in das düstere, mittelalterliche Setting ein. Jeder Charakter, mit dem man in Kontakt kommt, macht klar, dass man mitten in der Geschichte drinsteckt, es aber stets die eigene Entscheidung bleibt, was sich daraus entspinnt.
In einer magischen Rezeptur hat Piranha Bytes 2001 ein immersives Monster kreiert, das wie aus dem Game Design-Lehrbuch fesselnde Narration und fordernde Spielmechanik virtuos eint. Die Fans wollen mehr davon, und die Essener Entwickler haben sowieso nichts anderes im Sinn als ihr Geheimrezept weiter zu verfeinern.

Deep Silver
Nun ist "Risen" angekommen, der neue "Gothic"-Teil, der bloß deshalb nicht so heißt, weil die Namensrechte in einem Streit mit dem ehemaligen Verlag abgetreten werden mussten. Das Spiel erscheint zeitgleich auf Englisch und erstmals zum PC Windows-Original auch in einer Konsolenadaption für Xbox 360. Die internationale Fachpresse wird zum ersten Mal auf breiter Ebene mit der schrulligen Erfolgsformel des nicht enden wollenden Rollenspiel-Mehrteilers von Piranha Bytes konfrontiert. Es wird ein blutiger Kampf zwischen Journalisten und der Community, voller Tiefschläge und Missverständnisse, Enttäuschungen und Widersprüche.
Kulturelle Barrieren
Der angloamerikanische Raum ist von Konkurrenzprodukten wie "Oblivion" oder "Fallout 3" starke Charaktere und technisch polierte Umgebungen gewohnt. Man rechnet mit aufgeräumten Interfaces, überblicklichen Tutorials, transparenten Kampfsystemen.
Dem fremden Spieleterrain aus Deutschland schlau genähert hat sich Alec Meer vom britischen PC-Spieleblog "Rock, Paper, Shotgun" in seinem "Risen"-Tagebuch.
Doch "Risen" bietet nichts dergleichen und zeigt stattdessen trotzig den Mittelfinger. Die Hintergrundgeschichte ist simpel, die Welt mit unzähligen ambivalenten Figuren bevölkert. Das Kampfsystem ist undurchsichtig, die technische Umsetzung weiterhin schludrig. Die Grafik sieht aus wie von vor fünf Jahren. Die Verwebung der vielen Aufgaben und Auftraggeber ist so komplex, dass die Foren schon wieder voll sind mit Horrormeldungen, dass man das Game nicht abschließen können würde, wenn man Person X am Ort Y zur falschen Zeit den falschen goldenen Ring geben würde. Viele englischsprachige Games-Portale sind not amused und pfauchen ihren Frust und ihr Unverständnis über dieses seltsame Spiel in mittelprächigen bis schlechten Reviews ins Netz.

Deep Silver
Ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo eine kommerzielle Computerspielserie derart stur und uneinsichtig konsequent weiterentwickelt wurde, genau und nur so, wie es die Entwickler und Fans wollen. Das Vertrauen in die Magie der "Gothic"/"Risen"-Serie von Piranha Bytes ist so groß, dass auch krude Design-Entscheidungen und technische Mängel, die oft mehrere Jahre alt sind, weiterhin in Kauf genommen werden, solange die Grundformel dadurch geschützt bleibt. Und all die anderen, die es einfach nicht kapieren, sollen nur weiter eifrig in ihren Testbesprechungen schaumschlagen. Die dazugehörigen Foren werden schon dafür sorgen, dass eine neue Generation von Fans von der unorthodoxen Beschaffenheit der Serie in ihren Bann gezogen wird.
So wie damals
Für jene, die bereits mit der Welt von "Gothic" vertraut sind, ist die Kehrseite an "Risen", dass das Murmeltier zu schnell grüßt. Die Freude über die von Hand erstellte Welt, das Wiedersehen mit der dummdreisten künstlichen Intelligenz, der starke Drang, die Umgebung immer weiter erforschen zu wollen - all das wird beim Spielenden so punktgenau reproduziert, wie man es in Wahrheit gar nicht möchte. Exakt dieses Game habe ich doch schon mal gespielt - "Gothic 2" hieß das damals.

Deep Silver
Natürlich will man immer mehr vom Guten. Doch "Risen" ist ein neu erschienener Titel - und ich erwische mich beim gleichförmigen Durchklicken der Dialoge, den altbewährten Methoden, mit bestimmten Monstertypen umzugehen und den obligatorischen Raubzügen und Plündereien durch sämtliche Häuser, bevor es ans Abarbeiten der eigentlichen Missionen geht.
Das Spiel von Piranha Bytes ist weiterhin faszinierend, in seiner Verquertheit unterhaltsam, vertraut wie immer, doch in seinem beharrlichen Stillstehen zunehmend belanglos. Aber dafür musste ich mir keinen neuen Rechner kaufen. Nach einigem Herumschrauben an den Performance-Einstellungen und Download eines Patches für ergraute Grafikkarten ist das Game nun auch auf meiner über drei Jahre alten Kiste zufriedenstellend spielbar. Passt zum Flair der vergangenen Tage.