Erstellt am: 11. 10. 2009 - 15:21 Uhr
Carnival of Souls
Es passiert, was immer passiert. Es wird verdichtet, verkürzt, vereinfacht. Der Hausverstand sagt: Horrorfilme werden immer brutaler. Wobei: das Überschreiten von moralethischen und geschmacklichen Grenzen, das, was der Theaterwissenschaftsstudent "das Transgressive" nennt, war immer schon ein notwendiger und reinigender Bestandteil der Unterhaltungskultur. Im Pariser Grand Guignol-Theater reihten sich Epidemie-Entwürfe an inszenierte Selbstmorde und Vergewaltigungen. 1962 sperrte das Haus zu, vom letzten Leiter ist folgendes legendäre Zitate übermittelt: "Mit Buchenwald konnten wir nie gleichziehen."
http://cinemafantastique.net/film1726,Dernier-train-de-nuit-Le.html
Also: Alles, was auch im zeitgenössischen Horrorkino eine Rolle spielt und sensiblen Zusehern aufstößt, reizt, provoziert und schockiert vor allem deshalb so, weil man weiß, dass es menschlich und eben nicht monströs ist. Diesen Ansatzpunkt hatten schon die schlaueren der Terrorfilme aus den Siebziger Jahren: Filme wie Wes Cravens The Last House On The Left (1972), das sich lose an Ingmar Bergmans Mittelalter-Düsterwerk "The Virgin Spring" anlehnt oder Aldo Lados auf demselben Stoff basierender, aber interessanterer L’ultimo treno della notte (1975) markierten eine Schubumkehr vom Außerirdischen und Übernatürlichen hin zum Menschlichen.
Es war eine Zeit im fantastischen Kino, die bis in die Gegenwart hinein nachwirkt: Ausläufer oder Neu-Inszenierungen der damaligen Überschreitungsfilme waren beim Fantasyfilmfestival von Sitges, das heute Abend zu Ende geht, auch zu sehen. Das Portfolio des internationalen Genrekinos ist aber weitaus reichhaltiger und vielgestaltiger, als der Hausverstand diktiert. Denn nur ein Bruchteil der im spanischen Ort gezeigten Filme wollten als bewusste Zuschauerprovokation verstanden werden: der Großteil hat versucht, mit Geschichten und Ideen zu überzeugen, aufzutrumpfen und zu beeindrucken. Wie bei einem Karneval schillerte das Groteske und Perverse mit dem Zarten und Subtilen um die Wette.
Virenschleudertrauma
Der kanadische Regisseur Bruce MacDonald (The Tracey Fragments) etwa malte einen drastischen Entwurf vom Ende der Zivilisation als populärphilosophisch angehauchten Thriller auf die Leinwand: Pontypool ist ein kleines Dorf in Ontario und auch Titel des Films. Grant Mazzy (ein großartiger Stephen McHattie) spielt darin einen Radiomoderator, dessen Sender zum heimlichen Zentrum und letzten Freiraum während einer grassierenden Epidemie wird. Das Besondere daran ist, dass der Zuseher vom stattfindenden Weltuntergang lediglich über die Korrespondenzen zwischen Mazzy und einem Außenreporter informiert wird. Ein gespenstisches Knistern, Schreie, das Chaos sind zu hören, im Kopf formieren sich entsetzliche Bilder.
Sitges
Erst als ein Arzt, in dessen Privatklinik die Katastrophe ihren Ausgang genommen hat, in den Radiosender einsteigt, erfahren Mazzy und seine beiden Mitarbeiterinnen, was passiert ist: ein Virus, der den Infizierten aggressiv macht und nach nur wenigen Stunden tötet, ist ausgebrochen. Er überträgt sich ausschließlich über die englische Sprache (!) und auch da nur über bestimmte Worte wie "Darling". Wenn der Zuhörer das gesprochene Wort verstehen kann, wird er zu einem von den "Conversationalists", die unkontrolliert zusammenhanglose Wörterketten (und Blut) ausspucken. "Pontypool" ist ein kleiner, aufregender und schmerzlich intelligenter Thriller, der sowohl abgekapselt von unseren medienpolitischen Realitäten wie auch als altmodische Allegorie auf Aufhetzer, Polemiker und Populisten zu verstehen ist.
Die Rückkehr des Giallo
www.dvdbeaver.com
Den ersten Giallo dreht der italienische Meisterregisseur Mario Bava 1963: La ragazza che sapeva troppo (The Girl Who Knew Too Much) eröffnet zu den Klängen von Adriano Celentanos "Furore" und spielt sich an den selben Locations wie Fellinis "La Dolce Vita" in Rom aus. Bis in die späten Siebziger Jahre hinein bleibt der Giallo ein höchst proftables Subgenre des italienischen Thrillers. Höhepunkte inkludieren The Bird with the Crystal Plumage (1970; Dario Argento), Don't Torture a Duckling (1972; Lucio Fulci) und Torso (1973; Sergio Martino)
Sitges
"Noves Visions" heißt die Programmschiene in Sitges, die neue und außergewöhnliche Stimmen innerhalb des fantastischen Kinos versammelt: genau dort passt Amer hin. Acht Jahre haben die Regisseure Bruno Forzani und Hélène Cattet, die sich in Brüssel kennen gelernt und dort gemeinsam und selbst finanziert Kurzfilme gedreht haben, an dem 90-minütigen Liebesfilm gearbeitet. Es ist eine Meta-Romanze, an deren einem Ende die Filmemacher, an deren anderem Ende das Genre des "Giallo" steht. Gemeint sind jene (Horror-)Thriller, die das italienische Kino der 60er- und 70er-Jahre geprägt haben und die sich, jedenfalls theoretisch, auf die mit einem gelben (daher der Name „Giallo“: das italienische Wort für gelb) Einband versehenen Schundhefte stützt, in denen üblicherweise attraktive Frauen von schwarz behandschuhten Händen bedrängt, und hoffentlich vom raubeinigen Polizisten erlöst werden.
Sitges
„Amer“ ist ein Hyper-Giallo, gedreht von zwei bedingungslosen Fans, die Einstellungen, Farbteppiche, Frisuren, Tonspuren, Settings, Gesichter, Handlungsstränge, insgesamt also Formen und Inhalte des Genres zu einer ekstatischen und bei alldem auch noch fast wortlosen Collage arrangieren. Man sieht ein kleines Mädchen in einem von Schatten umwucherten Herrenhaus: nur der magische Talisman rettet sie vor einem alten Scheintoten, der sie durch die nachtschwarzen Korridore verfolgt. Jahre später reist diese Frau mit ihrer Tochter zurück in die Vergangenheit und beschwört die Geister von damals wieder herauf.
Sitges
Cattet und Forzani sind allerdings nicht die einzigen jungen Filmemacher, die sich explizit auf das italienische Genrekino rückbeziehen. Federico Zampaglione unterlegt seinen soliden Horrorfilm Shadow mit einem Goblin-esken Rock-Score, der sich ab und an zu druckvollen Nummern verdichtet. Beim Rest des Films funktioniert die Referenzfreude des Regisseurs weniger gut: zwei Extrem-Radler treffen sich in einer abgelegenen Hochgebirgshütte und werden dort von brachial aussehenden Wilderern drangsaliert. Es entwickelt sich eine Auseinandersetzung, bei der alle Beteiligten ihre Fortbewegungsmittel (Räder, Autos) verlieren und schließlich in den von dichtem Nebel umwaberten Dunkelwald laufen, wo sie auch prompt niedergeschlagen werden. Sie wachen im Keller von Mortis (der Höhepunkt des Films und eine der erschreckendsten Kreaturen der jüngeren Horrorfilmgeschichte: Nuot Arquint) auf, der sich in seinem Privatkino mit Filmrollen von Nazi-Verbrechen bis hin zum 11. September in Laune bringt, bevor er die Gefangenen foltert. Immer wieder blitzen Hinweise auf Argentos übernatürliche Meisterstücke (etwa "Profondo Rosso", aber auch "Suspiria") auf, an deren sinnliche Überwältigungskraft und inszenatorische Wucht "Shadow" allerdings selten heran reicht.
Spukhausparty
Sitges
Beim diesjährigen Filmfestival von Sitges stellten viele junge Regisseure klar, dass sie sich nicht davor scheuen, ihre Vorbilder oder Inspirationsquellen offen darzulegen: das beste Beispiel dafür ist The House of the Devil des Amerikaners Ti West. Geboren 1980, saugt er in seinen Teenager-Jahren viele Horrorfilme der 80er-Jahre auf und zollt ihnen in seinem sensationellen Mystery-Thriller Tribut. Richtig beiläufig stellt er die ästhetischen Vorlieben der Dekade, immerhin eine der reichhaltigsten in der Geschichte des fantastischen Kinos, nach: von den Eröffnungstiteln, die sich in gelben Lettern über Standbildern der Protagonistin (the first and final girl!) zeigen über das Setting in einer kleinen US-Universitätsstadt hin zum Flirt mit der Fantasy, die Mitte der 80er-Jahre selbst in die härtesten Horrorfilme Einzug gehalten hat.
Sitges
Mit minimalen Mitteln und über weite Strecken ohne Musikuntermalung erzählt West von der jungen, attraktiven Studentin Samantha Hughes, die, im Gegensatz zu ihrer besten Freundin Megan nicht aus einem wohlhabenden Haus kommt und für ihre Ausbildung hart arbeiten muss. Da kommt ihr der "Babysitter Wanted"-Zettel gerade recht: Nach einem Anruf fährt sie zum abgelegenen Haus der Ulmans (sensationell gespielt von den Legenden Tom Noonan und Mary Woronov!), die ihr offenbaren, dass sie nicht ein Baby, sondern vielmehr eine alte Frau beaufsichtigen soll. Der Großteil von "The House of the Devil" spielt sich dann in den Innenräumen des schauergotischen Hauses ab: Schatten flackern über die Wände und tauchen ganze Räume in Dunkelheit, Geräusche, Stimmen und abrupte Bewegungen verängstigen Samantha. Aber auf das, was noch kommt, hätte sie nichts vorbereiten können. Ti West ist stilistisch und erzählerisch selbstsicher und liefert mit seinem Schauerfilm einen der besten Horrorfilme des Jahres ab.
Sitges
Geschichten von beseelten oder besessenen Häusern hatten in den letzten Jahre Hochkonjunktur: eine interessante Variation der alten Poltergeistgeschichte zeigt der gebürtige Israeli Oren Peli in seinem bereits von Dreamworks (!) angekauften Low-Budget Verité-Schocker Paranormal Activity. Katie wird seit ihren Kindertagen von unerklärlichen Ereignissen geplagt: Schlüssel liegen nicht mehr dort, wo sie sie abgelegt hat, in der Nacht sind polternde Geräusche zu hören. Mit ihrem Verlobten Micah lebt sie mittlerweile in einem zweistöckigen Reihenhaus bei San Diego: aber die frisierte Oberfläche des Vorstadtlebens kann nicht überdecken, dass Katies Geister immer noch da sind. Mit einer professionellen Kamera entschließt sich das Paar, ihren Alltag aufzuzeichnen, um zumindest Beweise für die Erscheinungen zu haben. Aber was harmlos beginnt, entwickelt sich schnell zum Wackelkamera-Horrortrip. "Paranormal Activity" ist ein kleiner, feiner Schocker, der innerhalb kurzer Zeit eine beängstigende Intensität entwickelt.
Mad Scientists
Seit Dr. Frankensteins unerhörten Experimenten sollten keine Zweifel mehr daran bestehen, dass die verrückten Wissenschaftler ein fixer Baustein im Horror-Setzkasten sind. Der Kanadier Vincenzo Natali (Cube) gewinnt dem "Mad Scientists"-Genre neue Facetten ab, wenn er in seinem von Guillermo del Toro koproduzierten SF-Thriller Splice zwei Genforscher eine neue Kreatur erschaffen lässt. Dren ist ein Mutantenkind mit unnatürlich abgewinkelten Sprungbeinen, mandelförmigen Augen und einem katzenartigen Verhaltensmuster, das die beiden Wissenschaftler (Adrien Brody und Sarah Polley) zuerst wie ein Laborratte studieren und untersuchen, später dann aber ins Herz und ins Familienleben schließen.
Sitges
"Splice" setzt sich weniger mit den moralethischen Komplikationen solcher Experimente, als vielmehr mit der wachsenden Ununterscheidbarkeit zwischen Objekt und Subjekt auseinander. Ihre wachsende Zuneigung zur monströs menschlichen Dren stellt die Beziehung der Doktoren auf eine ernsthafte Probe und wird schlußendlich zu einem existenziellen Überlebenskampf. "Splice" ist ein hervorragendes Creature Feature, in dem die Trennlinien zwischen dem Eigenen und dem Anderen sukzessive und auf schockierende Art und Weise verschwimmen bis verschwinden.
Sitges
Es war allerdings ein anderer Arzt, der mit seinem Experiment ganz Sitges schockiert hat. Und das soll was heißen: Der Niederländer Tom Six präsentiert in The Human Centipede den deutschen Doktor Heiter (eine Sensation: Dieter Laser), der als Nachgeburt der Nazi-Forschungsverbrechen das ultimative Verdauungssystem kreieren will. Dafür entführt er zwei amerikanische und einen japanischen Touristen, schneidet ihnen die Kniesehen durch und näht die jeweiligen Münder an den After des Vordermanns. Es entsteht eine Art menschlicher Hundertfüßler: das Individuum löst sich auf, wird zu einem Glied in einer neuen, wenngleich lebensunfähigen Lebensform. Es ist die perverse Vision, die "The Human Centipede" zu einem transgressiven Erlebnis macht, weniger die Darstellung derselben. Filmisch wie inszenatorisch hat Tom Six‘ Debütfilm eindeutige Schwachstellen: aber letzten Endes ist es die Idee, die zählt, die den Zuseher herausfordert, verstört, anekelt und zum Nachdenken bringt.
Ich hoffe sehr, dass einige dieser Filme, die ich aus Sitges mitnehme, auch hierzulande im Kino, also dort, wo sie hingehören, zu sehen sein werden. Für mich war es wie in den Vorjahren ein aufregender, auszehrender und herausfordernder Trip an die Costa Brava, wo sich für ein paar Tage im Oktober Wirklichkeit und Fantasie ineinander schieben.