Erstellt am: 2. 10. 2009 - 06:55 Uhr
Wie man die Hände richtig in die Luft schmeißt
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"Salzburg, wo seid ihr?" fragt Stefan Hantel in den Konzertsaal der Arge hinein. Er weiß es ja aber eh, die Arge ist voll, den Menschen steht der erwartungsvolle Schweiß auf den Backen, die Luft zittert vor Erregung. Die Menschen sind gekommen, viele, viele, ihn zu sehen, den Frankfurter Stefan Hantel, der, wenn er seinen Künstlernamen Shantel angelegt hat, weiß wie man ost- und südosteuropäische Folklore mundgerecht und bilderbuchhaft feierlaunig in ein westliches Clubgeschehen verfrachtet.
Der Musikwissenschaftler Georg Capellen wusste schon vor über hundert Jahren in einem des öfteren zitierten Ausspruch von einer neuen, wunderlichen Musik zu träumen, "von einer Vermählung von Orient und Okzident zu einer Weltmusik, die in den verschiedensten Nuancen schillern wird", und darf so als Urheber des bis vor gar nicht so langer Zeit noch besonders übel beleumundeten Begriffs "Weltmusik" gelten. Weltmusik, naja: Soll man da bei Claude Debussy anfangen, dessen Weltbild bei der Weltausstellung in Paris 1889 von einer Darbietung von javanischer Gamelan-Musik nachhaltig erschüttert wurde? Oder bei den Talking Heads, die Ende der 70er begonnen haben Postpunk um aus Afrika abgehorchte Polyrhythmik zu erweitern? Oder bei entspannungsdienlicher New-Age-Elektronik featuring Didgeridoo?
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Stefan Hantel hat sich schon vor Russendisko und Internet für alle, vor Blog-House, Beirut, Gogol Bordello und vor Diplo meets Baile-Funk darum bemüht, Verbindungen zwischen unterschiedlichen musikalischen Landstrichen herzustellen, das muss man ihm zu gute halten. Dass er - so von der Idee her - versucht hat, beispielsweise slawische, griechische und jiddische Musiken mit einem elektronischen Dance-Mäntelchen zusammenzudenken, war in der Form neu, dass er mit seinen Bucovina-Club-Compilations, ein bisschen mit daran beiteiligt war, dass feine Combos wie die geil windschiefen rumänischen Blechbläser von der Fanfare Ciocarlia größere Bekanntheit erlangt haben, war sehr gut.
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Alexandra Augustin
Irmi Wutscher
Alex Wagner
Die Nelkenrevolution des Magiers im Zirkus der Popkultur. Shantel, sein neues Album: Andreas Gstettner über Planet Paprika
Shantel geht blauäugig, alles und jeden umarmend, ans Werk. Seine neue Platte heißt "Planet Paprika", das meint er ironisch und das meint er ernst. "Planet Paprika", eine Welt, in der alle Menschen Schwestern und Brüder sind, "Planet Paprika, there's no government". In Interviews sagt Shantel, die Musik, die er auflegt und die er spielt, sei Rock'n'Roll, nur eben nicht auf Rhythm & Blues basierend, sondern auf "Anarchie, Romantik und lokalen südeuropäischen Dialekten". Womit er recht hat und was live natürlich echt und wahrhaft der komplette Wahnsinn ist.
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Shantel steht mit acht Menschen auf der Bühne, der ganz große, die ganz großen Hochgefühle atmende Euphoriezirkus ist das, so wie man sich das vorstellt. Zwei Sängerinnen, Bläser, Akkordeon, Steicher, Drums, the real deal. Shantel selbst spielt Gitarre, bearbeitet enthemmt eine einzelne Snare oder ist ganz der hochsympathische, geschmeidige Master of Ceremony. Dass seine ausgeprägtesten Stärken nicht unbedingt im Sprechgesang und im Texten liegen ("Enough Is Enough/Fighting for Oil You Forgot About Love"), bricht der Angelegenheit kein Bein: Shantel will die guten alten Tanten "Lebensfreude" und "Ausgelassenheit" demonstrieren. Das tut er.
Aufgestachelt ist das Publikum ohnehin schon von Beginn an, mit den Hits "Disko Partizani" und "Disko Boy" gegen Ende des ersten Drittels des Konzerts geht erstmals ein grober Funken durch die Arge: Mitsingen, KLATSCHEN, Hände in die Luft, schade, dass wir keine Luftschlangen dabei haben. Niemand wird jemals wieder aufhören zu tanzen. Die Band ist freilich handwerklich tadellos und dabei fern von dröger Muckerhaftigkeit. Rund 20 Stücke gibt es zu erleben, immer wieder nimmt sich Shantel zurück, um - dramaturgisch smart die Gefühlsklaviatur bearbeitend - jeweils andere Bandmitglieder in den Fokus zu rücken. Der ewige Hit "Bucovina", der auf keiner Kaffeehaus-Compilation fehlen darf, wird mit der Single "Citizen of Planet Paprika" verwoben und in der endgültig hochgekochten Schlussphase mischt sich Shantel singend unters jetzt völlig aufgelöste Publikum. Darbietungstechnisch ist da gar nichts falsch dran an diesem Konzert.
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Alexandra Augustin
Irmi Wutscher
Alex Wagner
Dass Shantel mitunter gar arg schablonenhaft mit Versatzstücken aus unterschiedlichen Kulturen hantiert, dass er möglicherweise Klischees bedient, dass er vielleicht zu sehr auf diesen einen einzigen turbobetrieben Partymodus festgefahren ist und die altbekannten Muster um wenig Eigenes zu erweitern vermag, darauf würden wir an diesem, ja, ja, ja, sehr guten Abend gar nicht kommen. Wir tanzen, die Menschen johlen, die Menschen glühen. Magisches Theater: Nur für Verrückte. Aber in a good way, you know.
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