Erstellt am: 12. 10. 2009 - 11:07 Uhr
Verrückt spielen
Die Gänge des Krankenhauses sind leer und nur flackernd beleuchtet, die Plakate an den Wänden zeigen Augenoperationen und in den Ecken türmt sich dunkler Rauch. Schmerzhaftes Rauschen aus dem Lautsprecher, und dann, ganz nah, eine sanfte Frauenstimme: "Do you know where you are, Christopher? You are in a hospital. Do you know why you’re here? Christopher, do you understand that you are blind?"
The Chinese Room/Ben Andrews
Realität? Welche Realität?
Das Korsakow-Syndrom ist eine Form der Gedächtnisstörung, bei der in schweren Fällen Erinnerungslücken durch Fantasieinhalte ausgefüllt werden - eine berühmte Fallstudie findet sich in Oliver Sacks' Sachbuch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte".
Schon von Beginn an zeigt sich in "Korsakovia", der Eigenbeschreibung zufolge "a survival horror First-Person Shooter", dass hier nicht alles ist wie sonst im Videospiel. Das Setting ist zumindest zu Beginn aus anderen Spielen vertraut: Wie so oft wandert der Spieler durch ein Krankenhaus, Kulisse unzähliger anderer Spiele, doch die hartnäckige Stimme aus dem Off, die uns bei der Erforschung der leeren, unheimlichen Gänge begleitet, lässt uns immer mehr zweifeln. Ist alles, was wir hier sehen, nur eine Halluzination? Leiden wir, wie uns die Stimme unserer Ärztin in den vielen Dialogen aus dem Off immer wieder versichert, eigentlich an einer Wahnvorstellung und alles, was wir hier im altbekannten Gewand eines First-Person-Shooters sehen, ist nur das Produkt unserer psychischen Krankheit, des Korsakow-Syndroms?
The Chinese Room
Mods sind meist von Fans programmierte, kostenlose Erweiterungen, die mit verfügbaren Editoren zum jeweiligen Basisspiel erstellt wurden und nur in Verbindung mit dem Originalspiel lauffähig sind. Mods können einzelne Levels, aber auch umfangreiche Kampagnen mit völlig neuem Look ("Total Conversions") sein. In der Mod Data Base finden sich Mods zu verschiedensten Spielen zum Download.
"Korsakovia" stellt Fragen nach Realität, Wahnsinn und Wahrnehmung, wie wir sie im Gewand des Mediums Games so noch nie gestellt bekamen. Das Spiel ist eine kostenlose Modifikation (Mod) für "Half-Life: Episode 2" und selbst ein Experiment: Gefördert mit Mitteln des britischen Arts & Humanities Research Council und entwickelt von The Chinese Room unter der Leitung von Dan Pinchbeck an der Universität von Portsmouth, will "Korsakovia" die narrativen Möglichkeiten des First-Person-Gamings ausloten und erweitern.
Und das ist ohne Zweifel gelungen: "Korsakovia" erzählt keine lineare Geschichte im traditionellen Sinn, sondern entlässt den Spieler in eine verunsicherte (und verunsichernde) Welt des Wahnsinns, wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet und überlässt die Interpretation des vieldeutigen Kammerspiels, das sich als Dialog zwischen Ärztin und Patient entfaltet, dem Spieler selbst.
The Chinese Room
"Korsakovia" ist eine seltsam beklemmende Erfahrung, eine Lektion in Schrecken und Verunsicherung: Albtraumhafte, irgendwie unheimlich vertraute Umgebungen, körperlose Gegner, vor denen nur panische Flucht schützt, und, gegen Ende, das tatsächliche Auseinanderfallen der gesamten Spielwelt in ihre Einzelteile.
"Ver-rückte" Wahrnehmung
Hier gelingt ein Kunststück, das anderen Medien in dieser Art und Weise unmöglich ist: Der Spieler wird der Wahrnehmung seiner Figur ausgeliefert, und diese ist, so machen die Dialoge aus dem Off und auch die immer surrealer werdende Spielwelt klar, wahrscheinlich nur ein Hirngespinst, in dem wir als Spieler verloren sind. Wo Filme und Literatur "den Wahnsinn" nur zeigen und beschreiben können - im Film etwa in Christopher Nolans "Memento" oder bei David Lynch -, lässt uns "Korsakovia" im interaktiven Medium Games durch seine zersplitterte Erzählung die Desorientierung und Verunsicherung im Gewand des Spiels tatsächlich erfahren. "Korsakovia" ist demnach kein Spiel über psychische Krankheit, sondern in gewisser Weise deren Simulation.
Unweigerlich drängt sich bei so viel absichtlicher Verunsicherung und Verstörung aber eine Frage auf: Macht ein solches Spiel noch Spaß? Wahrscheinlich sollte man anders herum fragen: Muss ein Spiel überhaupt unbedingt Spaß machen? Dan Pinchbeck wendet zu Recht ein, dass sich Film und Literatur dieser Diskussion längst nicht mehr stellen müssen: "'Hamlet' is not fun... 'The Road' is unremittingly bleak and depressing... in every other medium people 'enjoy' not-fun experiences. Why shouldn't games do the same?"
Wie "The Path" bewegen sich deshalb auch "Korsakovia" und auch das Vorgängerprojekt "Dear Esther" an der schmalen Grenze zwischen Spiel und etwas anderem, das heute nur erahnt werden kann. Dan Pinchbeck sträubt sich allerdings auch gegen die Einordnung in die seiner Ansicht nach diffuse "Art Games"-Schublade: "Korsakovia is not art, or an art-game. It's an experimental FPS game, but it's a game, pure and simple."
"Just a game?"
"Korsakovia" ist als kostenloser Download erhältlich, allerdings muss dafür "Half-Life 2: Episode 2" -- erhältlich um 14,99€ via Steam -- bereits installiert sein.
Als Kunstwerk würde sich "Korsakovia" dafür einiges an Kritik ersparen, die es als Spiel herausfordert. Als Experiment mit Narration im Medium ist es gelungen, doch unter rein spielerischen Gesichtspunkten betrachtet laboriert "Korsakovia", so viel muss auch erwähnt werden, doch an einigen Problemen. Die spielerische Klasse kommerzieller Titel, die sich am Rande mit Wahnsinn und unzuverlässiger Wahrnehmung beschäftigten – von "Silent Hill" über "Eternal Darkness: Sanity’s Requiem" bis hin zu "Call of Cthulhu" und "FEAR" -, erreicht das Low-Budget-Experiment nicht - zu unfair sind manche Passagen, zu eintönig andere. Die surrealen Levels, das hervorragende Sounddesign und die einzigartige Atmosphäre entschädigen aber für diese Schwächen.
Denn "Korsakovia" zeigt uns etwas, was bisher einzigartig ist und was kein anderes Medium auf diese Weise leisten kann: wie es sich vielleicht anfühlen könnte, die Welt durch die verunsicherte Wahrnehmung psychischer Krankheit zu erfahren. Und das am "eigenen Leib" - wenn auch nur am virtuellen.