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Nina Hofer

Krach. Bumm. Zack. Mittendrin und doch so fern.

30. 9. 2009 - 13:40

Nachtschwärmen am Hamburger Reeperbahnfestival

Wann geh'n wir schlafen, wann soll ich Dich abholen?

Vergangenes Wochenende war exakt durchgeplant. Mithilfe eines pocket guide wurden euphorisch alle Acts und diverses Rahmenprogramm angestrichen, eingekreist, mit Rufzeichen beschmiert, was unbedingt gesehen werden sollte. Meine Bedenken waren eigentlich groß: Wie soll das denn gehen, ein Clubfestival? Wüste Höllenszenarios à la Vor-der-Tür-in-der-Schlange-Stehen-und-drinnen-raven-sie-ohne-mich-gegen-Deutschland oder enger Haut- beziehungsweise unerwünschter Atemkontakt mit Fremdlingen in einem völlig überfüllten Miniclub spielten sich da in meinem Kopf ab. Nichts dergleichen ist passiert, dank einer großartigen Festivalorganisation. Für Besucher sind die drei Tage Reeperbahnfestival ein Vergnügen, die Clubkonzerte wie das Rahmenprogramm.

Der Spielbudenplatz in Hamburg

Nina G. Zimmermann

Seit nun schon vier Jahren, immer Ende September, findet das Reeperbahnfestival in Hamburg statt. Insgesamt zirka 20 Clubs sind daran beteiligt und die musikalische Bandbreite wird zusammengefasst unter "New International Music". Insgesamt waren heuer an die 17.000 Besucher zu Gast und konnten sich ihre Festivalroute aus über 150 Acts zusammenstellen. Neben den Liveevents war das Reeperbahnfestival auch ein Geschäftsevent, Musikbranchenvertreter trafen sich am Reeperbahn Campus zu Vorträgen und Diskussionen. Das Rahmenprogramm ist ebenso breit gefasst, von Aftershowparties, Hamburgführungen bis zu Ray Cokes, der drei Shows moderierte.

Dinosaur JR mit Ray Cokes

Sebastian Böttcher

Dinosaur JR mit Ray Cokes
Konzertplakate-Ausstellung

Stefan Malzkorn

Das Highlight hier war die Ausstellung Flatstock Europe, die meine letzten Euros und fast auch meine Seele geschluckt hat. Jeden Tag bis in die Nacht hinein konnten dort am Spielbudenplatz Konzertposter aus aller Welt, d.h. Drucke und geschmackvolle Unikate, erstanden werden. Wien war übrigens durch die fabulöse Atzgerei vertreten. Ich bin wieder einmal sehr froh über die hohen Wände meiner Altbauwohnung. Wohin mit all den schönen Bildern, wird im Moment des Gierkaufs ja nie gefragt, Haben über Sein beim Anblick und Angriff der Tourposter.

The Tallest Man On Earth live

Oliver Dee

The Tallest Man On Earth

Does every street in Germany look like this?

Nachdem die Fans von bestimmten Künstlern bereits Stunden vor den Konzerten auf der Reeperbahn erkennbar waren als in Plastik eingehüllte, impulsive Menschen, die keine Grenzen kennen, habe ich entschlossen, größere Acts wie Deichkind auszulassen und mich Konzerten zu widmen, die nicht so schnell wieder zu sehen sein werden. Eine gute Entscheidung. The Tallest Man On Earth ist eigentlich ein eher shorter Schwede, der zum ersten Mal in Deutschland zu sehen war. Allein auf der Bühne nimmt Kristian Matsson selbige mit Gitarre und Banjo sofort in Beschlag und wundert sich, ob wohl jede Straße in Deutschland so aussieht wie die Reeperbahn.

Von der Elbe bis zum Big Ben – we are doin' our thing

Audiolith ist großartig. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das Hamburger Label hatte einige Vertreter am Festival aufspielen lassen, leider nicht alle, aber die Anwesenden waren allesamt auf meiner Liste angekreuzt: ClickClickDecker war da zum Beispiel zu sehen, oder die Berliner Elektropunker Egotronic und auch die Frittenbude wagte einen Auftritt und das obwohl draußen vor der Tür "Zieht's den Bayern die Lederhosen aus" gebrüllt wurde. Bayrisch Fußball gespielt wurde am Samstag schlechter als Musik gemacht.

ClickClickDecker live

Oliver Dee

ClickClickDecker

Hr. Decker, alias Kevin Hamann, war in einer für ihn recht ungewöhnlichen aber famosen Kombination in den fliegenden Bauten zu sehen: Anstatt von einer Band wurde er von elektronischen Geräten begleitet. "Smegma" hat übrigens diesmal keiner gebrüllt, obwohl da jemand neben mir fast geplatzt wäre. Die Atmosphäre sollte nicht gestört werden, das Konzert wurde für den NDR aufgezeichnet. Dafür wird das S-Wort beim nächsten Auftritt in Wien wieder ausgepackt.

Seasick Steve live

Nina G. Zimmermann

Seastick Steve

Never head west when you know u should be headin' south…

... never whisper when u know it's time to shout.

Das absolute Highlight des Wochenendes war Seasick Steve. Ich bin wirklich kein Bluesfan, normalerweise, vielleicht auch gerade, weil niemand den Blues so spielt wie Steve Wold. Fast jede Gitarre war selbst gebastelt, oder gefunden und liebevoll restauriert. In einem Steve kind of way, meistens mit Flachmann am Corpus oder auch nur mit einer Saite. Mehr wurde nicht benötigt, um ein Sitzpublikum zum Rocken zu bringen. Sechs Jahrzehnte eines bewegten Lebens mussten vergehen, ehe Seasick Steve eine Platte aufnahm und in allen seinen Liedern Biografisches verarbeitet. Wie nahe der Inhalt am Leben ist, spürt die Gänsehaut am Rücken. "Dog House Music" sollte übrigens in jeder Sammlung stehen.

Gitarre wartend auf Bühne, im Hintergrund das Reeperbahnfestivalplakat samt Maskottchen: ein Vögelchen mit Augenklappe

Stefan Malzkorn

Ich gestehe: Es war mein erstes Mal in Hamburg. Ich weiß jetzt endlich, dass Blankenese nicht unbedingt mit rassistischen Vorurteilen oder raupenartigen Tänzen zu tun hat und dass die Landungsbrücken nicht der Phantasie Kettcars entsprungen ist. Bei Tageslicht hab ich Hamburg in den drei Tagen allerdings nicht gesehen, es war mir physisch leider nicht möglich. Dafür war ich am Fischmarkt bei Sonnenaufgang, habe dies in einem Plattenladen kennengelernt und apropos Raupe und Wurm im Ohr. Das angebliche Spitzenlokal, in dem sie nur Hans Albers spielen, hab ich aber trotzdem nicht gefunden. Meine Begleiter übrigens auch nicht mehr. Ich komme wieder.