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Pia Reiser

Filmflimmern

29. 9. 2009 - 11:08

In einem kleinen Dorf

Von Verbrechen und anderen Grausamkeiten erzählt Michael Haneke in "Das weiße Band" und entwirft eine großartige Studie zu Gewalt und ihren Tentakeln.

"Das weiße Band" wurde in Cannes mit der "Goldenen Palme" ausgezeichnet und geht für Deutschland ins Rennen um den sogenannten Auslands-Oscar.

Verunsicherung macht sich im Kinosaal schon breit, bevor der Film noch wirklich begonnen hat. Der Verzicht auf Ton am Beginn von "Das weiße Band", während ohne Hetze die Titel eingeblendet werden, macht einen Teil des Publikums sichtlich nervös. Es wird gehustet, geräuspert, gekramt und gekichert. Als dann gemächlich unter den Filmtitel in Kurrentschrift "Eine deutsche Kindergeschichte" geschrieben wird, geht eine erneute nervöse Kicherwelle los. Bravo Haneke, denk ich mir, Mission erfüllt. Einen Moment der Verunsicherung, der Verstörung, ein Unbehagen ist das mindeste, was Michael Haneke noch mit jedem seiner Filme auslösen wollte - das ist ihm bereits nach weniger als zwei Minuten gelungen.

In schwarz/weißen-Bildern, bei denen der Kontraste-Regler bis zum Anschlag geschoben wurde, sodass das Weiß des Schnees in den Augen genauso weh tut wie die beständige Atmosphäre der Repression des Films im Rest des Körpers, beginnt die deutsche Kindergeschichte. Nachdem die Stimme aus dem Off sich als der Dorflehrer vorstellt, teilt sie uns gleich mit, dass er nicht weiß, ob die Geschichte, die er erzählt, in allen Details der Wahrheit entspricht. Auch das eine kleine Geste zur Verunsicherung und Forderung nach einem objektiven Zuseher, der sich nur ja nicht auf das, was er sieht, verlassen soll.

Szenenbild aus Michael hanekes Film "Das weiße Band"

Wega Film

Bürger, Bauer, Bettelmann

Die Geschehnisse, von denen der Lehrer erzählt, passieren in einem protestantischen Dorf vor Beginn des ersten Weltkrieges: Zuerst hat der Doktor einen Reitunfall, eine Scheune brennt, ein Kind verschwindet und wird schwer misshandelt wiedergefunden. Verdächtigungen, Schuldzuweisungen, Sündenbock-Konstrukte und Racheakte treiben eine Gewaltspirale voran und stören die Ordnung und Machtstruktur des Dorfes. In dessen Mikrokosmos spiegelt Haneke das Feudalsystem wider und zieht einen Querschnitt durch die Gesellschaftsstruktur: vom Bauern bis hin zum Herrn Baron, der in Gestalt von Ulrich Tukur so herrlich blitzweiß angezogen (weils ja eh keine Arbeit gibt, bei der er sich dreckig machen kann) und vermeintlich gönnerhaft durch den Film stackst. Josef Bierbichler poltert als Verwalter gewohnt rau und erdig herum und Burkhardt Klaussner gibt beeindruckend Unwohlsein einflößend den Pastor, der seinen Kindern den Gehorsam nicht nur predigt sondern auch prügelt. Von verbalen Verletzungen ganz zu schweigen; zur wahrscheinlich grausamsten Szene wird ein Dialog zwischen dem Doktor und der Hebamme (Susanne Lothar). Was der Arzt der Frau gegenüber äußert, ist Blut- und Beuschelhorror in Wortform.

Buck und Bart

Nur einmal, mitten im Film, als Detlev Buck mit einem richtig schlecht angepicktem Schnurrbart als Vater von Kindermädchen Eva auf den Lehrer trifft, gibt es sowas wie einen comic relief, weil Buck seine Rollenbiografie (und deren Witz) anhaftet wie ein lästiger Kaugummi, der am Schuh picken bleibt. Doch Buck als Stimmungsaufheller wirkt nur kurz, schließlich stellt er sich mit Strenge und Vernunft der zögerlichen Liebe zwischen Eva und dem Lehrer in den Weg und ist eine der vielen Machtdemonstrationen des Patriachats in diesem Film.

Eingeklemmt in das Korsett der rigoros durchgesetzten Erziehungsideale stecken die Kinder, die einem der Film fortwährend, aber dezent als mögliche Verursacher der Gewalttaten präsentiert. Jeglicher kindlicher Unschuld beraubt, zeigt er sie uns, wie sie verschworenen an Türen lauschen und an Fenster klopfen, ein unheimlicher Wind umweht sie, wenn sie den Familien der Opfer der mysteriösen Vorfälle Hilfe anbieten wollen.

Szenenbild aus Michael Hanekes Film "Das weiße Band", die Figur des Lehrers und der Eva in einem Einspänner

Wega Film

Verabsolutierte Vorstellungen

Nüchtern nähert sich Michael Haneke seinem ewigen Thema, der Gewalt und dem Bösen im Banalem, im Gewohnten. Er selbst bezeichnet seinen Film als Thematisierung "von Erziehung und den Folgen verabsolutierter Vorstellungen". Im "weißen Band" nur einen Film zu sehen, der sich den Wurzeln des Faschismus widmet, wäre zu kurz gegriffen, das betont Haneke in jedem Interview, und auch eine viel zu einfache Ursache-Auswirkungs-Gleichung für sein Filmuniversum. Es sind eindringliche, kühl präsentierte Beobachtungen zu Gewalt, Angst und Unterdrückung und wie sie sich strukturell manifestieren und fortsetzen. Oder eben auch die strukturellen Bahnen verlassen und in eruptionsartiger Grausamkeit Ausdruck finden.

Szenenbild aus Michael Hanekes "Das weiße Band"; kleiner Junge trägt einen Vogelkäfig

WEGa Film

"Das weiße Band" läuft seit 24. September 2009 in den österreichischen Kinos.

Eine Katharsis in Form der Verbrechensaufklärung bleibt der Haneke-Hausregel Nummer Eins folgend aus, ebenso gibt es keine klar formulierten Erklärungsversuche für die Motive der Gewaltausbrüche. Und so wirft eine Einstellung, die die vollbesetzte Dorfkirche zeigt und so die Zusehersituation im Kinosaal spiegelt, doppelt die Verantwortung und Weiterdenkaufgabe an das Publikum zurück; moralgetränkte Botschaft wird einem dankenswerter Weise aber keine auf den Weg mitgegeben. Da hält es Haneke mit einem Regiekollegen, den er hier zitiert: "Ich halte es mit Sam Fuller. Der hat mal gesagt, wenn ich eine Botschaft verschicken will, gehe ich zum Postamt."

Nach dem Film sollte man zum Postamt gehen und mindestens fünf Postkarten mit dringender Anschauempfehlung verschicken. "Das weiße Band" ist ein großer, kühler Film, dessen kalkulierte Distanziertheit ihm nicht die Wucht nehmen kann, mit der er einen trifft.