Erstellt am: 24. 9. 2009 - 16:03 Uhr
X Wohnungen
Studentenheim statt Stundenhotel
Prater, Messegelände, Happel-Stadion. Ad hoc fällt mir zum 2. Bezirk nicht mehr ein. Doch, vielleicht noch der Augarten. Aber damit wäre die Leopoldstadt für das Gros der Wiener Bevölkerung vermutlich ausreichend beschrieben.
Gäb's da nicht noch das Stuwerviertel. Eine auf den ersten Blick recht aufgeräumte Gegend, die in den letzten Jahren jedoch immer wieder mit Berichten über ihren illegalen Straßenstrich und den hohen Anteil an MigrantInnen Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Gleichzeitig hat dort ein Gentrifizierungsprozess eingesetzt, der das Viertel mit frisch aufgezogenen Wohnblöcken und dem geplanten neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien für Studierende und eine kaufkräftige Mittelschicht ansprechend machen soll.
X Wohnungen - ein Stadttheaterprojekt von brut - hingegen verspricht einen vielschichtigeren Einblick in das Grätzl, als ihn die schönste städteplanerische Vision je geben könnte.
In 14 Wohnungen im Stuwerviertel machen bei X Wohnungen KünstlerInnen aus Theater, Performance, Film und bildender Kunst gemeinsam mit deren BewohnerInnen Programm. Von 24.-27. September.
Radio FM4 / Barbara Köppel
Start in der Stuwergasse
Ausgestattet mit einem Orientierungsplan mache ich mich mit meinem Begleiter auf den Weg zur ersten Station. Vorbei am Lindwurmstüberl und der großen Baustelle, durch den Hof vom Gemeindebau in der Wehlistraße, wo an nahezu jedem Balkon eine Satellitenschüssel montiert ist, bis zum Handelskai Nummer X. "Nehmen Sie die Treppe in den dritten Stock zur Wohnung X auf der rechten Seite. Warten Sie da.", steht auf unserem Plan.
Einen Augenblick später spiele ich mit einer Familie, die ich noch nie zuvor gesehen habe, Verstecken. Im Finstern. Die Sache bekommt einen bitteren Nachgeschmack, als wir später im Kerzenschein eines achtarmigen Leuchters, einer Menora, Fotos von jüdischen Familien betrachten. Reingefallen. Ich komme mir vor wie die Gestapo.
Doch für längeres Reflektieren bleibt keine Zeit. Wir müssen weiter. Weichen Kindern auf Fahrrädern aus, streifen bekopftuchte Frauen, die Fladenbrot im Plastiksackerl heimtragen. Ich beginne mich auf die Straße zu konzentrieren. Durch den straffen Ablauf ist die Aufmerksamkeit immer im Hier und Jetzt. Wenn es hier dämmert, verrichten die zahlreichen Leopoldstädter Hunde ihr Geschäft und in den halb gefüllten Gastgärten wird Abend gegessen.
Als sich die Tür in der Engerthstraße X öffnet, empfängt uns ein Schwall aus Zigarettenrauch und brennendem Zwiebelaroma. Nicht lang und mir kommen die Tränen. Das vorgetragene Gedicht war aber auch rührend...
Real oder inszeniert?
Im weiteren Verlauf unserer Theatertour schlüpfen wir in die Rollen von Spionen, Kriminalbeamten, ungebetenen Gästen, besuchen ein spezielles Seminar oder bleiben einfach stille Beobachter. Mancherorts gibt es von den DarstellerInnen und BewohnerInnen vorgegebenes Programm, anderswo sind wir allein. Die Hemmschwelle in fremden Schlaf- und Arbeitszimmern herumzustöbern sinkt von Mal zu Mal.
Für die Theatertour ergibt die Architektur der Leopoldstadt nur ein einziges Manko: X Wohnungen ist nicht behindertengerecht, da in keinem der bespielten Häuser ein Aufzug vorhanden ist. Für die ichweißnichtwievielen Stufen, die gestiegen werden müssen, empfehle ich gutes Schuhwerk.
Barbara Palffy
X Wohnungen ist minutiös durchgeplant, Route und Timing perfekt organisiert. Die künstlerischen Interventionen sind auf die Gegebenheiten vor Ort abgestimmt und die Strecken zwischen den Stationen werden zum Teil des Erlebnisses.
Nein, das Stuwerviertel ist kein blinder Fleck mehr. Ich habe fremde Stiegenhäuser erkundet - heruntergekommene, mit aufgebrochenen Wänden und Postkästen, und feine, frisch geputzte. Ich habe in straßenseitige Separées gelugt, mich in den Glasfassaden properer Neubauten gespiegelt und das Pfarrhaus der Mexikokirche kennengelernt.
Die X-Wohnungen-Premierenfeier findet heute, am 24. September ab 22 Uhr im Café Extreme, Wolfgang-Schmälzl-Gasse 18-20, 1020 Wien, statt. Gespielt wird noch bis 27. September.
- Infos auch auf auf der Website: X Wohnungen
Radio FM4 / Barbara Köppel
Nach fast drei Stunden erreichen wir unsere letzte Station. Am Max-Winter-Platz Nummer X wohnt Matthias. Der arbeitet beim Saturn, hört gern Jazz und hat eine neue Brille, erzählt uns eine lebendige Kommentarstimme. Er ist einsam, aber aus seinem Fenster hat man eine gute Aussicht. Den Weg zurück finden wir ohne Plan.