Erstellt am: 23. 9. 2009 - 16:17 Uhr
Journal '09: 23.9.
Eberhard Lauth über die Generation 20-29 in seinem Zib21-Blog.
Und hier eine praktische Umsetzung des nämlichen Autors, was Musik für Jüngere betrifft.
Frank Schirrmachers epochaler Text über Nerds und Piraten ist aktuell nur über die Hauptseite anzusteuern und etwas schwierig zu finden.
Ich stoße gerne Debatten an, egal ob absichtlich und per Zufall. Das hat einen banalen Grund, der anderes Offensichtliches (wie die Lust an intellektueller Reibung oder den Spaß am Streiten) überragt: Diskussion bringt mich weiter; mich, ganz persönlich.
Wer sich nicht stellt, bleibt stehen.
Und ich bin ein leidenschaftlicher Geher.
Dass es womöglich anderen auch so geht wie mir, dass sie sich angestoßen und weitergebracht fühlen, weil sie sich anderen Ideen und neuem Imput stellen, ist ein guter Nebeneffekt. Ich würde aber lügen, wenn ich ihn als Hauptantrieb bezeichnen würde. Das überlasse ich den Sonntagsreden der Medienmacher, die diese Lüge so verinnerlicht haben, dass sie teilweise selber dran glauben.
Jeder und jede (und das schließt Mutter Theresa mit ein) macht alles in erster Linie für sich; und ist im Optimalfall halt sehr froh, wenn es auch andere erreicht.
Hilfe, die Welt will was von uns.
Journal '09: 31.8.Die Generation 20-29 läuft Gefahr, ihre Welt zu veröden.
Eine Entwarnung von Rafael Reisenhofer.
Robert Rotifer begegnet einer vorgeblich weltverödenden Generation.
Das Biedermeier frisst seine Kinder.
Über meine und andere Generationen sprechen(mit ein bisschen Wut)
Rebelliert halt selbst, ihr alten Säcke!.
Journal '09: 9.9. Die verantwortlich gemachten Mittzwanziger.
Talking About My Generation: Das hässliche Entlein.
Journal '09: 14.9. Tugend. Und Wehrhaftigkeit.
Revoltiert, ihr Flaschen! Armin Thurnhers Leitartikel vom "Falter" Nr. 36/08.
Ehrt das Alter, aber schlagt die Säcke.
Journal '09: 21.9. Traktat zum Tage, Essay zur Lage: Ja. Panik!.
Und, neu und sehr hübsch, noch was zum Thema Tugend.
Mir hat die jetzt fast schon ein Monat laufende Diskussion um die Generation 20-29 enorm viel gebracht: überraschende Gegenmodelle, Einsichten in altes und neues Denken, Bekanntschaft mit neuen Seiten und Menschen, jede Menge Anregungen und Anmerkungen und eine Fülle an Detail-Hinweisen.
Und: es reißt nicht ab.
Gestern meldet mein Google Alert, dass sich Eberhard Lauth auf der hier schon einmal in den Focus geschobenen Zeit im Blog-Site mit einem weiteren wichtigen Aspekt der Debatte auseinandersetzt, nämlich der Rolle, die die Digital Natives in diesem Zusammenhang spielen.
Generation 20-29: Auch im Netz wartet keine Zukunft
Lauth sagt, dass er an die Kraft des Netzes glaubt. Und: "Ich halte das Netz in all seinen Ausprägungen für einen Gewinn. Es zerschlägt veraltete Strukturen und Muster, ökonomisch (Beispiel Printmedien) wie politisch (Beispiel Obama). Und es bietet einer Generation die Möglichkeit zu einer Artikulation, die sie in alten Strukturen (und auch Mustern zur Revolte) nicht mehr finden kann. Sie lebt nicht nur mit dem Netz, sie lebt im Netz. Und daraus entstehen dann neue Bewegungen wie etwa die Piratenpartei."
In diesem Zusammenhang legt er mir einen Link, auf den ich später zurückkommen möchte.
Aber weiter im Lauth-Text. Er nimmt den (auch in der Brodnig-Replik) als Fanal zitierten Facebook "Gefällt mir!"-Button und denkt das weiter: "In Wahrheit kann das 'Gefällt mir' auch kein Vorwurf sein. Jede Demokratie mit ihren politischen Parteien wird in Intervallen durch Wahlen neu aufgestellt. Und das Kreuz bei einer Partei ist doch für ein Gros der Wähler nichts anderes: Gefällt mir, der Faymann mit seinen Grübchen. Gefällt mir, die Glawischnig mit ihren Kindern. Gefällt mir, der Strache mit seinen Sprüchen. Und der Rest gefällt mit eben nicht. Für den Großteil des Wahlvolks ist das 'Gefällt mir' die einzige politische Entscheidung, die sie in ihrem Leben alle paar Jahre treffen. Klar wünschte ich mir mehr, aber ich rechne nicht damit. Nicht bei Jungen, nicht bei Alten.
Aber ehe ich zu sehr abschweife, muss ich zu meinem Denkfehler zurück kehren. Der Denkfehler rührt daher her, dass ich in meinen idealistischen Gedanken die Generation 20-29 bewusst mit den Digital Natives/Nerds gleichgesetzt habe. Das ist leider großer Blödsinn. Das Netz – ich meine hier vor allem das Social Web – ist heute nämlich längst die Spielwiese der Älteren. Sie sitzen an den Hebeln, sie definieren seine Regeln. Das ist jetzt kein persönlicher Eindruck, sondern das gibt es auch mit Zahlen (US-amerikanischen allerdings, die man sicher nur bedingt auf Mitteleuropa bzw. Österreich umlegen kann) belegt, die etwa hier auf ReadWriteWeb referiert werden. Es ist die Generation X (also jene Alterskohorte, die heute in den USA zwischen 30 und 43 ist), die die Macht im Netz hat, über Technologien, deren Nutzung, deren Zugang. Diese Generation ist so übermächtig, dass sie jüngere Menschen zwar Technologien entdecken lässt, sie dann aber dort erdrückt. Beispiel Facebook: Mit dem Wachstum des sozialen Netzwerk änderte sich auch dessen Altersstruktur. Wo sich früher die Generation 20-29 tummelte, kommunizieren heute die deutlich Älteren.
Das rettet zumindest in einem Punkt die Ehre der Generation 20-29. Die meisten Leute, die bei Facebook 'Gefällt mir' klicken, sind nämlich schon 30 und darüber. Es sind Leute wie ich, eigentlich alte Säcke, die eh nicht mehr wissen, was jüngere Menschen bewegt. Aber ich erlaube mir, weiter darüber nachzudenken."
Sich erlauben weiter drüber nachzudenken,
das ist kein Luxus, das ist Grundnahrungsmittel, noch dazu ein zukunftsüberlebenswichtiges.
Eberhard Lauth hat mich nicht nur mit seinem Zweifel an der Macht der jungen Digital Natives in einer von Älteren errichteten und dominierten Virtual-Web-World verunsichert, er hat mich auch mit der Nase auf etwas gestoßen, was am Sonntag bei mit eh auf der Türdacke gelandet ist, ich aber nicht zur Kenntnis genommen habe.
Dort, in der FAS, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Renommier-Ausgabe der FAZ hätte sich nämlich auf Seite 19 eine Geschichte gefunden, die ich verschlungen hätte, wäre die FAS wegen Sonntags-Landpartie, abendlicher Sendung und Vorarlberg-Wahl-Textschreiben nicht auf dem "Später Lesen"-Stapel gelandet, aus dem es erfahrungsgemäß keine Rettung gibt.
Da steht unter dem Titel Aufstieg der Nerds. Die Revolution der Piraten das möglicherweise wichtigste Essay des Jahres.
Und es stammt von Frank Schirrmacher, alterndem FAZ-Herausgeberwunderkind, konservativem Feuilleton-Revoluzzer, der sich schon einmal vergreift und Tom Cruise eine schmierige Laudatio hält, aber eben auch einem der ganz wenigen, der zu einer umfassenden und zukunftsweisenden Analyse fähig ist.
Schirrmachers Nerd-Würdigung
Schirrmacher packt uns, die Formulierungs-Mächtigen und Lesekundigen der alten Schule an den Hörnern: natürlich ist für uns der coole Erklärer lässiger als der nerdige Dateneingeber.
Aber, Zitat: "Die Nerds, die die Sprites auf ihrem C-64-Homecomputer programmierten, während ihre Mitschüler in Clubs oder auf Demos waren, haben buchstäblich die Welt programmiert, in der wir uns heute bewegen. Nerds haben die Drehbücher unserer Kommunikation, unserer SMS-Botschaften, mittlerweile unseres Denkens geschrieben. Sie sind die größte Macht der modernen Gesellschaft."
Der Nerd, sagt der Autor, ist die Zukunft, auch politisch. Weshalb die Piraten-Bewegung (ob mit Parteistruktur oder ohne, das wird sich weisen) auch die zukunftsträchtigste ist.
Zitat: "Der Nerd ist ein Wunder der Technik. Aber jetzt wird er zu einem Wunder unserer Gesellschaft. Man würde ihn in unserer coolen Glamourwelt auf jeder Party übersehen, er würde kaum reden und keinen Wirbel machen."
Trotzdem sind sie es, die den wichtigsten politischen Turnaround der nächsten Jahre mitsteuern.
Zitat: "Ihrem Wesen nach sind Nerds individualistisch. Aber sie sind Individualisten, die dank der digitalen Technologie die größte Vernetzungsstufe der Menschheitsgeschichte möglich gemacht haben: Vernetzung einzelner Subjekte, die ihren Charakter und ihre Individualität bewahren können, nicht nach ihrem Äußeren beurteilt werden. (...) Die Organisation ist so geschlechtsneutral, wie es das Internet ist. Das erklärt, wieso sie politisch geweckt wurden, als die Grundregeln bedroht zu sein schienen. Und das macht sie wichtig und notwendig."
Schirrmachers Piraten-Revolution
Zur Diskussion um die Piratenpartei siehe auch Julia Seeligers taz-bog.
Schirrmacher prophezeit die Wandlung des Nerds zu einem "politischen Tier".
Zitat: "Was wir erleben, ist der Übertritt einer anderen Intelligenzform in den Bereich der Politik. Ob durchweg zum Guten, das lässt sich heute noch nicht sagen. Für das Problem des Urheberrechts haben die Piraten so wenig eine Antwort wie die anderen: Ihr heutiges Programm, umgesetzt, bedeutete das Ende von Verlagen und Künstlern."
Dann wird Schirrmacher in seiner oft fast zu anekdotisch Auflistungserzählung sehr prinzipiell und holt da auch einiges nach, was der Hardcore-Kundschaft seines Mediums (wie wohl der jedes Mediums) unzureichend bewusst ist:
Zitat: "Noch hat die Politik, haben viele Menschen kaum eine Ahnung, wie fundamental die Informationstechnologien unser Verhältnis zu uns selbst verändern werden. Immer mehr Menschen bewegen sich in Informationsökologien, die harmlos wirken, aber in deren Untergrund hochkomplexe Berechnungen laufen, die menschliches Verhalten in Mathematik verwandeln. Das Feedback, das diese Systeme auf das „wirkliche“ Leben haben, lässt sich erst in Ansätzen erkennen. (...) eine solche Welt verändert ihr Verhältnis zur Freiheit fundamental."
Das alles, sagt Schirrmacher, sei erst ein bescheidener Anfang. Im Guten wie im Schlechten: die neue Definitionsmacht wäre sich ihrer noch nicht bewusst; und die Möglichkeiten der Berechnung jeglichen Verhaltens wären an einem kritischen Punkt angelangt.
Glaube ich sofort. Unlängst hat mir ein Experte in klaren Worten erklärt, dass das, was ich hier im Juli noch unter "kann ich nicht ganz nachvollziehen" abgehandelt habe (Unterpunkt: Data is the new oil, Topic: Click-Stream) ganz leicht machbar wäre und auch wie.
Schirrmacher und die noch unbeachtete digitale Intelligenz
Die Nerds, sagt Schirrmacher, und meint damit natürlich die Digital Natives, die Experten im Umfeld, seien bereits politische Kraft und würden bald auch die anderen Parteien verändern.
Und er geht tief ans Eingemachte - Zitat: "Die digitale Intelligenz, für die der Urkern der Piratenpartei nur ein Symbol ist, denkt nicht mehr psychologisch. Hier reden Experten der Informationsverarbeitung. Es sind Leute, die nichts so sehr interessiert wie die Frage, wie Informationen zustande kommen, weil dann erst über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit geurteilt werden kann. Alles das, was hochkomplexe mathematische Theorien, sei es der Verhaltensökonomik, sei es der modernen Psychologie, in den letzten Jahren an neuen Erkenntnissen über das Zustandekommen von richtigen oder unrichtigen Entscheidungen herausgefunden haben, ist für sie längst Lebenswirklichkeit."
Praktisch heißt das, dass jeder relevante digitale Player die "Effekte von Gruppenurteilen und Gruppenpolarisierungen auf seiner eigenen Seite in Echtzeit" studieren kann, auch weil man da erleben könne, "wie ein felsenfester Konsens binnen Sekunden durch Kommentatoren aufgebrochen werden kann und durch Feedback zu einem neuen Konsens wird."
Und, Achtung, nicht naiv sein. Natürlich ist "die Vorstellung, dass das Netz an sich frei und kostenlos sei, eine der stärksten Illusionen der Gegenwart. Es ist einer der meistkontrollierten Organismen, die wir kennen. Moderne Informationstechnologien sind dezentral, aber ihrem Wesen nach bürokratisch."
Und so plädiert einer der ideologischen Scharfmacher ganz jenseits jeglicher sonst umgeworfenen politischen Mäntelchen für den Dialog.
Zitat: "Dazu braucht die Gesellschaft Gesprächspartner, wenn sie nicht nur den Codes der Software und des nächsten Hypes folgen will. Es wäre schön für alle, wenn die Piraten, ganz gleich ob als Partei oder als Bewegung, ein solcher Gesprächspartner sein könnten. Um das herauszufinden, gibt es keine prognostische Software. Aber es gibt die Möglichkeit, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden."
Wir müssen reden
Hier noch eine ganz frische und interessante (halbe) gegenrede zu Schirrmachers Ding von Michael Maier (vormals Berliner Zeitung und Netzzeitung).
Dieser Text und alles, was er anspricht, ist in höchstem Maße verblüffend.
Bislang waren die deutschen Piraten, wenn es Kontakte mit dem Mainstream gab, damit beschäftigt die simpelsten Selbstverständlichkeiten klarzustellen. Seriöse Kommunikation zwischen dieser Bewegung und den Medien gab es kaum. Nur Angst der politischen und ökonomischen Machthaber und das blanke Unverständnis der Old-School-Medien, die sich in tagtäglichen, peinlichen Beispielen nicht nur (aber vor allem) in Österreich, sondern überall (siehe dazu die von Robert Rotifer hier trefflich beschriebene Journalisten-Runde von hinterm Mond) manifestiert.
Dass sich jemand von hinter dem Mond aufmacht, vorkommt und unter Ausnutzung des Tageslichts offen sprechen will, ist erstaunlich genug. Dass dazu aber auch noch die nötige Politisierung der kritischen Masse hinter dieser Bewegung, also der Nerds/Digital Natives angesprochen wird, ist wesentlich mehr als man erwarten durfte.
Der Lauth-Gedanke, dass die Herrschaftsstrukturen bei den Nerds/Digital Natives auch von den 30+ definiert wird, ist allerdings auch nach Schirrmacher aufrecht.
Wenn sich der im Text auch angesprochene Slavoj Zizek in ein paar Monaten ähnlich geäußert hätte, dann wäre das "normal". Wenn Schirrmacher derlei Komplexes und gleichzeitig wichtiges in den Mainstream zerrt, dann ist das sensationell.
Also - den Schirrmacher-Text lesen. Und, wie der Kollege Lauth so schön sagt, sich erlauben weiter drüber nachzudenken.