Erstellt am: 23. 9. 2009 - 18:55 Uhr
Gleich und gültig
Eine junge Frau mit Pagenkopf zieht telefonierend kleine Kreise vor dem strahlend roten Haus. Ihr T-Shirt ziert Bellevue, das gelbe Haus an der Autobahn in Linz. Das knallrote Holzkonstrukt, ebenfalls entworfen von Architekt Michael Rieper, steht in Graz und ist das diesjährige Festivalzentrum des steirischen herbst.
Ab Donnerstag ist offiziell steirischer herbst. Dann werden die Bauzäune verschwunden sein und das Sonnendeck am temporären Festivalzentrum steht bereit für KünstlerInnen, Festivalbesucher und Zaungäste.

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Denn punktgenau haben Intendantin Veronika Kaup-Hasler und ihr Team das pulsierende Herz des Festivals neuer Kunst ins Stadtteil Lend gepflanzt. Was gilt, wenn alles gleich und gültig ist fragt der herbst 2009. Und führt die Frage nach allgemein verbindlichen Werten und Maßstäben in einer Gesellschaft, deren Verfassung die Gleichheit des Menschen garantiert, weiter. "Das Gleichheitsgebot: ein immer ferneres Ziel", konstatiert Veronika Kaup-Hasler. Im sozial vielschichtigen Annenviertel, im Lend, ist das augenscheinlicher Alltag.

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Als Vielspartenfestival hat der herbst Theater, Literatur, Bildende Kunst, Architektur, Film und "Spielfeldforschung" zur Verfügung, um das diesjährige Leitmotiv "All the Same" anzupacken.
Wie die Plakate des herbsts ein unvollständiges Puzzle zeigen, auch an dieser Stelle ausgewählte Programmteile als erste Empfehlungen mit Lücken zum Selberfüllen.
Radiotipp: Im Sumpf
Ostermayer und Edlinger berichten vom ersten herbst-Wochenende.
Sonntag, 21 bis 23 Uhr
Das erste Wochenende
Eröffnet wird das Festival am 24. September mit einem "Tempel der Vernunft", erbaut von raumlaborberlin, einer Gruppe für Architektur und Städtebau, und dem Theater im Bahnhof. Wer dem "krisengeschüttelten Gesamtkunstwerk" zum Eröffnungsauflauf beiwohnen will: einige Restkarten sind wie in den Vorjahren kurz vor Beginn zu bekommen. Bereits im Anschluss findet der erste Programmpunkt mit freiem Eintritt des diesjährigen herbsts statt: Phantom Ghost spielen ein Konzert (23 Uhr, Helmut-List-Halle).
Im Schauhaus 09 geht es ab Freitag, 25. September, zur Sache. Mit Radio Muezzin ist die erste einer Reihe von Produktionen, die dokumentarisch arbeiten, zu erleben. Die Theatermacher von Rimini Protokoll bringen ihre umfassenden, themenspezifischen Recherchen nicht mit Schauspielern auf die Bühne, sondern lassen ihre Protagonisten aus dem "echten", dem eigenen Leben erzählen. Nach Stücken über und mit indischen Call-Center-Angestellten - "Call Cutta" - oder Hörspielen mit Trauerrednern gestaltet Rimini Protokoll "Radio Muezzin".
30.000 Muezzine rufen in Kairo sechs Mal täglich um die Wette. Das könnte sich bald ändern: der ägyptische Minister für religiöse Angelegenheiten will 2010 den zentralisierten Muezzin einführen. Vier Muezzine haben gemeinsam mit den Theatermachern ein Stück erarbeitet. Die Männer, die oft ein karges Dasein als Hausmeister kleiner Moscheen führen, werden Hauptdarsteller einer Rekonstruktion eigenen Lebens und Ich-Vertreter einer religiösen Kultur. "Radio Muezzin" ist erstmals in Österreich zu sehen.
Willkommen im Club

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Im Festivalzentrum sind neben der Bühne auch ein Café, die herbstbar und ein Vortragssaal untergebracht. Und der Club, der dieses Jahr eine erfreuliche Fortsetzung erfährt. Von Ja, Panik, die am Freitag ihr neues, drittes Album "The Angst And The Money" präsentieren werden, bis Mocky sind die kommenden Wochenenden bestens besetzt. Nicht zu verwechseln ist der Club mit dem Musikprotokoll, das seit über vierzig Jahren ein Experimentierfeld und Labor für zeitgenösische musikalische Kunst bietet.
The Super! Power! Team hätte dann ab 11. Oktober gerne viele, sehr viele Freiwillige, und zwar nicht bloß als Publikum. Mehr als vor der Oper in Sydney könnten es durchaus sein, denn gemeinsam will man mit Massenchoreografien eine Rock Opera aufführen.
Der Ausstellungsreigen wird dieses Wochenende über eröffnet.
Freitagnachmittag geht TextBild MMIX am Hauptplatz in Betrieb, als Leuchtschrift taucht jeweils ein Satz nur an einem Tag und Ort in der Steiermark auf. Schriftsteller wie Clemens Setz - der sich nach der Nominierung für den deutschen Buchpreis auf der Shortlist befindet - schreiben sich so radikal kurz in Ortsbilder ein. Vor dem Bad zur Sonne wird "Utopie und Monument I" enthüllt: das Ausstellungsprojekt ist über zwei Jahre angelegt und thematisiert die Frage nach Gültigkeit von Kunst im zunehmend privatisierten und überwachten öffentlichen Raum.
Zur Orientierung dienlich sind die geführten Rundgänge, denen man ohne Anmeldung und kostenlos folgen kann.
Democracies und andere Arbeiten
Willensbekundungen und Demonstrationen in verschiedenen Ländern Europas hält Artur Zmijewski mit der Kamera fest.
Das soziale Experiment dient ihm für seine künstlerische Herangehensweise. Dabei treibt der in Warschau lebende Künstler in seinen Videos das demokratische Grundprinzip der Gleichbehandlung oft auf die Spitze, z.B. ließ er gehörlose Kinder Bachkantaten aufführen.
Die Fußball-WM in Deutschland, Jörg Haiders Beerdigung, nachgestellte historische Schlachten - Meinungen und ihre Inszenierungen stellt Zmijewski nebeneinander, ohne sie zu werten. Zu sehen ist auch die Arbeit "Selected Works", die Zusammenschnitte von 24-Stunden-Dokumentationen aus dem Alltag von NiedriglohnarbeiterInnen zeigen. Es sind bedrückend beeindruckende Porträts der Ausgebeuteten. ("Democracies", Camera Austria, 26.9. bis Jänner 2010).
Dazu passend sind im Videoprogramm Die Krise der Gleichheit dreizehn Filme zu sehen, in denen die Rolle von Gewalt und das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Medien, von Partizipation und Popkultur beleuchtet werden. Das Programm ist in drei Blöcke gegliedert (28.9., 5.10., 12.10., jeweils 19:30, Festivalzentrum) und der Eintritt ist frei.
Ich in der Zukunft
Den Blick zurück in private Geschichten, die exemplarisch für Generationen stehen könnten, richten die Regisseure Frederico Leon und Lola Arias. Mit "Ich in der Zukunft" lässt der Theater- und Filmemacher Frederico Leon zwei Frauen und einen Mann in gleich drei Lebensabschnitten gleichzeitig auf der Bühne stehen. Wie sich die Vergangenheit auf die Gegenwart auswirkt wird auch in Lola Arias' "Mi Vida Después" eindringlich deutlich: die Eltern heute dreißigjähriger Argentinier stehen als Schatten stets hinter ihnen. Mit Hilfe von Fotos, Briefen, Kleidungsstücken schlüpfen sechs Schauspieler die Jugend ihrer Eltern zu rekonstruieren, um die Zukunft zu verstehen.
Ein Ort, an dem die Gegenwart all zu gerne von Erinnerungen an Vergangenes verdrängt wird, ist der Schau- und Spielplatz von "Hotel Rollator". In einem Caritas Senioren- und Pflegewohnhaus gibt es während des herbsts die Möglichkeit, sich in bereits bewohnte Zimmer stundenweise einzumieten.
Auf in den herbst. Es ist die wunderbarste Zeit, die diese Stadt zu bieten hat.