Erstellt am: 18. 9. 2009 - 17:58 Uhr
Jenseits von Gut und Böse
Ich kenne einen erwachsenen stattlichen Herrn, der sich den dicken Totoro, Logo und berühmtestes Geschöpf von Studio Ghibli Hayao Miyazaki, auf den Arm tätowieren ließ. Er erntet dafür anerkennendes Staunen und ehrfürchtiges Flüstern. Von Kopf schütteln und "Mein Gott bist du kindisch"-Kommentaren wurde nichts kolportiert. Wer Totoro kennt, verehrt ihn.
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Das hat mit dem inhaltlichen Tiefgang und der emotionalen und intellektuellen Dichte und Konsistenz der von Hayao Miyazaki entworfenen Welten zu tun. Es sind Welten, die Abseits der Dualität des Gut-Böse-Prinzips funktionieren, das uns von Kindheit an in Hollywood Produktionen verfolgt. In Studio Ghibli-Produktionen gibt es stets mehrere Perspektiven auf ein Problem, auf eine Geschichte. Selbst die Hexe Yubaba, die in Chihiros Reise den Protagonisten die Namen und somit die Identität stiehlt, ist im Grunde jemand, mit dem man auskommen kann. In einer Geisterwelt werden rationale Probleme abgehandelt. Komplexe philosophische Fragen und Probleme, die in den Übersetzungen leider oft verloren gehen, werden spielerisch in die Handlung eingebaut.
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Miyazakis Welten sind animistisch. Sprechende Flugzeuge und steuernde Schweine sind genau so selbstverständlich wie verzweifelte Waldgötter, die gegen die Zerstörung ihrer Welt durch den Menschen kämpfen. Kinder sind keine klugscheißenden Mini-Erwachsenen, die im Laufe der Geschichte sozialisiert werden. Im Gegenteil: Miyazaki plädiert dafür, dass sich Erwachsene Staunen, Neugier und Lernfähigkeit erhalten.
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Die Sprache des Studio Ghibli ist zart und poetisch. Von banalen „Recycle oder du bist ein schlechter Mensch“ -Botschaften ist nichts zu spüren. Es geht Miyazaki nicht um Pädagogik, sondern um eine Verzauberung seines Publikums, die in weiterer Folge einen Reflektionsprozess auslöst.
Der direkteste und politischste Film ist "Prinzessin Mononoke". Sie kämpft an der Seite der Tiere und Waldgötter gegen die Zerstörung durch den Menschen. Auch hier gibt es kein klares Gut und Böse. Es geht um einen Prozess, eine Entwicklung, die in andere Bahnen gelenkt werden muss, um das Überleben aller zu ermöglichen. Am Ende steht nicht Sieg sondern Koexistenz.
Nach der gleichen Idee funktioniert "Nausicaä aus dem Tal der Winde". Das, was man nicht kennt, nicht als Feind zu betrachten, sondern versuchen es zu verstehen und nicht zu zerstören, so handelt in einer postapokalyptischen Welt Nausicaä die Prinzessin des Tals der Winde. Der Großteil der Erde ist von einem Meer der Fäulnis und einer giftigen Welt bedeckt. Das Meer und der Wald drohen auch die letzten noch ungiftigen und für Menschen bewohnbaren Landstriche zu verschlingen. Einzig Nausicaä wagt sich in den Wald und findet heraus, dass dessen Bewohner in der Lage sind, den vom Menschen vergifteten Boden zu reinigen und wieder bewohnbar zu machen.
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Nausicaä ist auch ein bis 1994 unregelmäßig erscheinender Manga, in dem Miyazaki die komplexe Geschichte weiterspinnt. Vor der westlichen Fassung des Anime sei an dieser Stelle gewarnt. New World Pictures erwarb 1985 die Rechte und schnitt und kürzte den Film um über 20 Minuten und ließ eine Prinzessin Sandra nun plötzlich gegen Gorgonenmonster kämpfen. In der ungekürzten Originalfassung ist Nausicaä aus dem Tal der Winde auf Deutsch 2005 erschienen. In Japan erscheint der Film bereits 1984 und ist derart erfolgreich, dass Miyazaki und sein Partner Isao Takahata Studio Ghibli gründeten. Isao Takahata ist auch der Regisseur des Studio Ghibli-Films, der mich am meisten berührte, obwohl ich nach fünf Minuten in Tränen aufgelöst aufgegeben habe.
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"Die letzten Glühwürmchen" basiert auf Akiyuki Nosaka autobiographischen Roman "Hotaru no haka". Ein Junge kämpft in einer ausgebombten Stadt um sein Überleben und das seiner kleinen Schwester. In der ersten Szene verhungert das kleine Mädchen in Lumpen gehüllt in einer Bahnhofshalle. Schnitt zurück, man sieht das Geschwisterpaar Glühwürmchen nachjagen und die Stadt im Hintergrund steht noch. Der Film erzählt im Rückblick den Kampf ums Überleben in der ausgebombten Stadt Kobe.
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Ich habe den Kampf ums Überleben nie gesehen. Bereits in der Eingangssequenz werden die ZuseherInnen derart meisterlich in die Welt der beiden Kinder gezogen, dass ich mir einbildete für eine Millisekunde einen Blick erhascht zu haben, emotional irgendwo erfasst zu haben, welch unvorstellbare Greul Krieg bedeutet. Um die Menschen nicht vollkommen zerstört und aufgelöst aus dem Kino zu entlassen, wurde "Die Letzten Glühwürmchen" im Japan der späten 80er Jahre in Doppelvorstellungen mit "Mein Nachbar Totoro" gezeigt.
Totoro, der korpulente Waldgeist, irgendwo zwischen Katze und Eichhörnchen, ist ein Wesen, das nur von Kindern gesehen wird, der menschlichen Sprache nicht mächtig ist, aber jedes Wort versteht.
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In einer Szene schläft ein kleines Mädchen auf dem flauschigen Bauch des Walgeists Totoro ein. Ein Bild, das derart viel Geborgenheit und Zärtlichkeit vermittelt, dass es mich nicht wundern würde, wenn es meinen Freund mit dem Totoro-Tattoo irgendwann zuviel wird, wenn wildfremde, betrunkene Menschen in Nachtclubs versuchen, seinen Oberarm zu streicheln.
Die Filme von Hayao Miyazaki sind zur Zeit im Filmcasino zu sehen.
Leider aus rechtlichen Gründen nicht im Programm ist der neueste Studio Ghibli-Film Ponyo.