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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

18. 9. 2009 - 12:21

Brüder

Zwischen gefühligem Familienepos, sozialpolitischem Historienroman und wüster Kultursatire. Bestsellerautor Yu Hua über zwei Brüder und "Chinas Aufschwung".

Die im Oktober stattfindende Frankfurter Buchmesse steht dieses Jahr ganz im Zeichen Chinas. Schon im Vorfeld wird über "Wahrnehmung und Wirklichkeit" eines Landes diskutiert, das in kürzester Zeit zur Weltmacht avancierte. Während man auf dem Podium versucht, sich Fragen zu nähern, die mögliche Erklärungen für die rasante Entwicklung und die damit einhergehenden, gesellschaftlichen Veränderung liefern sollen, zeichnet uns der chinesische Bestsellerautor Yu Hua mit seinem fünften Roman "Brüder" seine Version von "China im Aufschwung".

Im Land der Gegensätze

Fischer Verlag

Yu Hua "Brüder". Erschienen im Fischer Verlag. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz.

Yu Hua erzählt uns die Lebensgeschichten zweier Brüder, Song Gang und Glatzkopf-Li, die in den sechziger Jahren in einer Kleinstadt in der Nähe von Schanghai aufwachsen. Der ältere von beiden, Song Gang, ist ein schüchtener, zurückhaltender Mensch. Mit seinem Hang zur Melancholie und seiner Liebe zur Literatur ist er der Schöngeist der Stadt. Li hingegen zeichnet sich durch seine Rüpelhaftigkeit aus. Als naiver und von seinem frühen Geschlechtstrieb besessener Junge begattet er jeden Telefonmasten der Stadt, sehr zum Gespött der Einwohner und zur Schande seiner Mutter. Die Krönung seiner moralisch verwerflichen Taten ist seine heimliche Hinternspionage am öffentlichen Frauenklo, mit der Yu Hua den ersten Teil seines Buches eröffnet.

Beide sind sie Außenseiter, geprügelt und erniedrigt von den älteren Jungs, wobei Lis freches Mundwerk sie öfter beschützt als Songs traurige Resignation. Damit noch nicht genug, werden sie im Laufe der brutalen Wirren der "Kulturrevolution" zu Waisen, die sich selbst über Wasser halten müssen. Von da an führen ihre Lebenswege allerdings auseinander. Dazwischen steht eine Frau, die begehrteste Schönheit der Stadt, auf die es der Eine abgesehen hat und von der der Andere geliebt wird. Im zweiten Teil des Buches wird das Band der Brüder, das am Totenbett ihrer Mutter mit einem Schwur geknüpft worden ist, parallel mit der Öffnung zum Westen immer mehr aufgelöst. Song Gang wird mit dem Mädchen Lin Hong an seiner Seite zum Sinnbild des Glücks, während Glatzkopf-Li nach einer verpatzten Firmengründung zum obdachlosen Altwarenhändler wird, der in einer Müllhalde lebt. Bis sich das Rad der Fortuna in die andere Richtung zu drehen beginnt.

Gesellschaftsentwicklung in Zeitraffer

Der Autor Yu Hua hat mit "Brüder" ein gewaltiges Epos geschaffen, dessen Wucht aus mitteleuropäischer Sicht wohl nie ganz nachvollziehbar sein wird. Gerade der Wechsel zwischen märchenhaftem Erzählstil und der oft derben Gewalt- und Sexschilderungen ist es, der das Buch befremdlich und exotisch wirken lässt. Auf vielen, verschiedenen Ebenen greift Hua damit das Selbstbild Chinas und seiner Vergangenheit an.

Yu Hua, der selbst zur Zeit der "Kulturrevolution" aufgewachsen ist, beschreibt die Unterdrückung durch "die Rote Garde" mit bluttriefender Detailgenauigkeit und beteuert in Interviews, nichts zu übertreiben. Andererseits ist der "Sitten- und Werteverfall", der sich wie eine schleichende Seuche in allen Köpfen seiner Charaktere ausbreitet, eine recht deutlich überspitzte Analogie zur Öffnung Chinas und dem damit einhergehenden Wandel der Gesellschaft.

Während vor vierzig Jahren jeder "Klassenfeind", der auch nur das geringste Vermögen besaß, oft bis zum Tode bekämpft wurde, scheine heute laut dem Autor die Profitgier und das Streben nach Geld und Besitz in der globalen Industriemacht China allgegenwärtig. Es sei genau diese rasante Geschwindigkeit der Entwicklung, die zur vielen gesellschaftlichen Problemen und zur "inneren Leere" der Menschen geführt habe, so Hua. Denn durch die permanent größer werdende Kluft wischen städtischem Reichtum und ländlicher Armut stehe man heute vor viel mehr Klassenkämpfen, als zur Zeit der Kulturrevolution.

Die Zünglein an der Waage

Es fällt schwer das Buch von Yu Hua mit gängigen Romanen unserer Bereitengrade zu vergleichen. Auch über den literarischen Gehalt von "Brüder" entspinnen sich Kontroversen. Das liegt nicht zuletzt an der offensichtlichen Vielschichtigkeit der Erzählung. Die Geschichte des ungleichen Bruderpaares als reines Familienpsychodrama zu analysieren wäre ein zu enger Fokus, ebenso wie sich an den brutalen Gewaltsequenzen und pornohaften Ausschweifungen zu ergötzen. Es ist vielmehr die historische und sozialpolitische Umklammerung, die es schafft, den grotesken und schwarzhumorigen Exzessen eine Tiefe zu verleihen. Dabei symbolisiert der ältere Bruder das traditionelle China mit seiner wehementen Weigerung, die Vergangenheit aufzuarbeiten, während der Jüngere als Sinnblid für das schnellwachsende Wirtschaftswunder und die dadurch entstehende Werteaushöhlung und Orientierungslosigkeit steht.

Jürgen Bauer

Stellenweise scheint Yu Hua leider die satirische Waage zugunsten des herben Schelmenromans kippen zu lassen, zumindest was den Umfang seiner Schilderungen betrifft. So wird ein widerlicher Schönheitswettbewerb von Jungfrauen, bei dem am Rande mit künstlichen Jungfernhäutchen betrügerisch Geld gemacht wird, auf knapp 100 Seiten ausgewälzt. Natürlich nicht, ohne wichtige, kontrastierende Nebenerzähglstränge weiterzuführen. Überhaupt ist die Gewichtung der Themen auf den fast 800 Seiten selbst ein gewisses Statement, das wiederum nur am Ende mit einem großen Schritt zurück, also von der Geschichte weg, wahrgenommen werden kann. Interessant ist, dass sowohl chinesische, als auch westliche Verlage das Buch kürzen wollten. Die Beweggründe waren jedoch unterschiedlich. Während in seinem Heimatland die Kürzungen auf die kritischen Geschichtsbeschreibungen abzielten, sollten in Mitteleuropa viele Seiten dem wirtschaftlichen Verkaufsfaktor zum Opfer fallen. Yu Hua hat sich jedoch eisern gewehrt.

Und das ist gut so, denn "Brüder" ist ein großes Unterfangen das versucht, eine komplexe, vierzigjährige Entwicklung nachzuzeichnen, in all seinen sozialen, politischen und menschlichen Fassetten. Das Ergebnis ist ein sehr kontroveriselles Buch, an dem sich sowohl seine Anhänger, als auch seine Gegner reiben. So wird Hua vorgeworfen, den schockierenden Ereignissen der "Kulturrevolution" nicht gebührenden Platz eingeräumt zu haben, andererseits wird er von der politischen Gegenseite für seine kritische Sicht auf den wirtschaftlichen Aufschwung zurecht gewiesen. Bei den Lesern hat "Brüder" jedoch genau den Nerv getroffen, sonst hätte sich der Roman wohl kaum eineinhalb Millionenmal verkauft. Yu Huas Werk löst auf alle Fälle eine Welle von Gefühlen aus, die von Abneigung über Belustigung bis zu Faszination reichen können. Und spannend bleibt das Buch trotz zeitweiliger epischer Ausbreitungen bis zur letzten Seite allemal.