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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

14. 9. 2009 - 19:00

In Memoriam

Erinnerungen an die Filmfestspiele von Venedig

Man ist ja immer versucht, die Zeit, die hinter einem liegt, auf Momente, auf etwas Punktuelles zu reduzieren. Vermutlich weil die Erinnerung daran danach geschmeidiger geschieht, weil sowas die gefühlsmäßige Orientierung erleichtert. Dann gibt es aber auch Erinnerungen, die sich wellenförmig verhalten, die man schwer mit einer Situation, mit einem Verhalten, mit einem Moment abgleichen kann, da sie ein universelles, allumfassendes Gefühl auslösen. Erinnerungen, die nie aufhören, losgetreten von einem Moment, einer Information, die sich bis in die Gegenwart, in den Augenblick, in dem meine Finger über die Tastatur im Funkhaus klappern, hinein verschleppen. Zum Glück.

Am zweiten September, vor der offiziellen Eröffnung der diesjährigen Kino-Mostra in Venedig, nachdem ich am Vorabend das aufgeblasene Epos "Baaria" von Guiseppe Tornatore gesehen habe, mache ich mich gerade im Schreibraum des Festivals bereit, darüber zu fabulieren und zu spekulieren, als meine Welt einen Riss bekommt. Schon als ich das Gesicht meines ansonsten immer fröhlichen Kollegen sehe, weiß ich, es ist etwas passiert. Ich kenne diese Gesichter, habe sich schon öfters gesehen. Danach hat sich immer etwas unwiderruflich verändert. Wahnsinn. Nika und Alexis sind tot, sagt er mir über den Kopf eines nicht deutsch sprechenden Kollegen hinweg. Ich spüre nichts. Ein Witz? Nein. Ein Blick auf meinen Mail-Ordner bestätigt seine Worte. Nika Bohinc und Alexis Tioseco sind in der Nacht vom ersten auf den zweiten September auf den Philippinen, wo sie erst seit Anfang des Jahres gemeinsam gelebt haben, gestorben. Erschossen, als sie in ihr Haus gehen wollten. Auf der Schwelle. Erschossen von Räubern, die das Hausmädchen in der Küche gefesselt und geknebelt haben.

Mann, Frau

www.hollywoodreporter.com

Farewell, my friends: Alexis Tioseco & Nika Bohinc

Nika Bohinc (1979 - 2009)

Nika kannte ich seit sechs Jahren: Sie war Teil jener wilden, ungehaltenen Slowenen-Truppe, die trotz der schwierigen kulturpolitischen Verhältnisse in ihrem Land versucht haben, dort cinephile Grundlagenarbeit zu leisten. Sie eröffnen Programmkinos neu, arbeiten beim Aufbau eines ambitionierten Filmfestivals, dem Kino Otok in Izola mit, Nika übernimmt irgendwann die Chefredaktion des Magazins Ekran, das sie und ihr ambitioniertes Team auch mit Artikeln von internationalen Filmjournalisten auf einen hohen Standard bringen wollten und das auch geschafft haben.

Alexis Tioseco (1981 - 2009)

Alexis ist in Kanada aufgewachsen, hat aber nach dem Tod seines Vaters vor einigen Jahren die Entscheidung getroffen, dessen Unternehmen auf den Philippinen weiter zu leiten. Ihn habe ich erst vor zwei, drei Jahren beim Filmfestival von Rotterdam kennen gelernt, ich habe ihm sein Feuer schnell angemerkt: Alexis war einer der fiebrigsten und leidenschaftlichsten Sprecher für das philippinische Kino, war gut befreundet mit und auch ein Wegbereiter der neuen, radikalen Regisseursgeneration des Inselstaats. Ihm verdankt die internationale Filmkritik einige der aufregendsten und besten Texte zu diesen Filmen.

Die Angst, die bleibt

Im Januar dieses Jahres habe ich die beiden zum letzten Mal gesehen: Es sind Momente, die sich jetzt, nach dem, was passiert ist, in meinem Kopf ausbreiten und aufblähen, die versuchen, sich mit Melodramatik vollzusaugen, was ich aber nicht geschehen lassen will. Sie haben den Aufbruch gewagt: Nika verlässt Europa und startet mit ihrer großen Liebe Alexis ein neues Leben auf den Philippinen. Das diesjährige Filmfestival von Venedig wird für mich für immer verwoben sein mit diesen Gefühlen, mit meinen Erinnerungen an diese Menschen: Oft bin ich während der zehn Tage im Kino gesessen, gebeutelt von plötzlichen Angstattacken, heimgesucht von einer profunden Traurigkeit, die an diesem Mittag des zweiten September, als die Nachricht zu uns durchsickerte, in den Gesichtern von vielen meiner Freunde zu sehen war. Umso wichtiger erscheint es mir jetzt, für das weiter anzuschreiben, was Nika, Alexis mit mir und vielen anderen Filmliebhabern auf der ganzen Welt verbunden hat: Der Glaube an ein gutes Kino, die Ablehnung von alten Meinungen und Zugängen. Ganz neu wollten wir uns orientieren und positionieren, das Kino uns aneignen, uns dem Kino überlassen.

Das Festival

Venedig 2009 war keine Enttäuschung, eigentlich war es einer der besten Jahrgänge, seitdem ich auf das Festival fahre. Direktor Marco Müller hat eine explosive Mischung in den Wettbewerb gepfercht; Filme, die nichts miteinander zu tun haben wollten, liefen plötzlich direkt hintereinander im Kino, gleichberechtigt auf die Hauptpreise. Unglücklicherweise hat keiner der Filme, die das gesamte Festival in eine neue, frische Richtung bringen hätten können, gewonnen. Leider haben all jene das Spiel für sich entschieden, die das Kino einfach hinzunehmen scheinen.

Den Goldenen Löwen für den israelischen Erstlingsfilm "Lebanon" von Samuel Maoz kann ich noch verkraften, denn der hat immerhin eine spannende Idee. Zu erzählen von drei Panzersoldaten während des ersten Libanonkriegs wäre das Set-Up für ein Meisterwerk, könnte man meinen. Aber Moaz kommt über seine gute Idee nicht hinaus: Die Bilder aus dem Fernrohr (der Film spielt nur im Panzer) ähneln zu sehr einer nervigen Kunstinstallation, wirken steril, lebensfern, und das, obwohl Maoz aus eigenen Erfahrungen schöpfen kann: "Lebanon" ist autobiografisch geprägt. Spätestens nach der Hälfte des Films war ich so verärgert aufgrund des bestehenden, aber nicht angerissenen Potenzials (die Klaustrophobie im Panzer, die filmische Heraufbeschwörung dieser männlichen Seelenwelten), dass ich mich gegen den Film gestellt habe. Ich wollte ihm nicht mehr erlauben, mir näher zu kommen.

Soldat

La Biennale di Venezia

Kriegsbilder aus "Lebanon": Gewinner des Goldenen Löwen 2009

Das wird er auch nie mehr schaffen. Richtig ärgerlich finde ich hingegen des Spezialpreis der Jury, der an Fatih Akins "Soul Kitchen" ging: Eine belanglose Komödie über einen jungen Mann, der sein Restaurant mit Hilfe eines gefeuerten Haubenkochs aufmotzt, die über das Niveau eines Mittwochabend-Fernsehfilms nie hinaus kommt.

Mein Festival

Ganz unten findet ihr eine kommentarlose Aufstellung der diesjährigen Preisträger des Venediger Filmfestivals. Ich möchte meine Energien allerdings lieber darauf verwenden, euch meine Lieblingsfilme (egal ob sie im Wettbewerb gelaufen sind, oder nicht) kurz vorzustellen:

[REC]2

Die Fortsetzung zum katalanischen Horror-Hit [REC] (2007), wieder inszeniert vom Regie Duo Jaume Balagueró und Paco Plaza: eine Sondereinheit der Polizei arbeitet sich mit Hilfe eines Arztes/Priesters durch das spanische Wohnhaus vor, in dem eine geheimnisvolle Epidemie die Bewohner in blutgeile Wahnsinnige verwandelt hat. Mittendrin verlagert sich der Fokus auf die Kamera dreier Jugendlicher, die durch einen Abwasserkanal in das abgeriegelte Haus vorgedrungen sind. Am Ende wartet (entgegen aller religiöser Implikationen) nicht die Erlösung: Die Kamera wird zum metaphysischen Instrument, das Kino brummt, der Körper zuckt.

Zombie

image.net

Und die Kamera läuft weiter: [REC]2

The Road

Der australische Ausnahme-Regisseur John Hillcoat verfilmt Cormac McCarthys postapokalyptische Gefühls-Elegie mit angemessener Gelassenheit. Viggo Mortensen und Sohn schleppen sich durch eine aschfahle Welt: Menschenfresser verfolgen sie, inmitten des Wahnsinns blüht die Utopie einer Liebe in Zeiten des Kriegs auf. Der ultimative Film zur Zeit.

Valhalla Rising

Genre-Avantgardist Nicolas Winding Refn bearbeitet den Wikinger-Mythos ohne Helm, dafür mit ganz viel Blut und Bildgewalt: das Ergebnis sieht aus als hätte Tarkovskij mit Jess Franco gedreht. Kontemplatives Machokino mit sinnierenden Barbaren, christlichen Kreuzrittern und einer der schönsten Ausweide-Sequenzen der Filmgeschichte. Ein Ausnahmewerk.

Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans

Werner Herzog lässt Nicolas Cage durch ein kaputtes New Orleans torkeln: als böser Lieutenant ist er auf der Suche nach dem Mörder einer Familie, verliert sich bald in einer halluzinogenen Welt aus winkenden Krokodilen und tanzenden Seelen.

Tetsuo: The Bullet Man

Ein Geschäftsmann verwandelt sich nach dem Unfalltod seines Sohnes in eine Amok laufende Menschmaschine: Die Kabeladern schmelzen, die Rohre dampfen, die Leinwand zuckt unter den blinkenden Lichtern zusammen. Shinya Tsukamoto serviert den dritten Langfilm seines "Tetsuo"-Zyklus: ein Cyberpunk-Meisterwerk

Mann, Licht

La Biennale di Venezia

Geburtskanal der neuen Götter: Tetsuo - The Bullet Man

Accident

Cheang Poi-So, hierzulande noch unbekannter Meister des HK-Genrefilms, lässt die Hauptdarsteller seines philosophisch angehauchten Thrillers über Plänen brüten: Sie tüfteln komplizierte Unfälle aus, um ihre menschlichen Ziele auszuschalten. Eine verdammt intelligente Variation auf das HK-Hitman-Genre, mit gut aufgelegtem Nerd-Ensemble und unfassbar gut choreografierten Sequenzen. Produziert von Johnnie To.

My Son, my Son, what have ye done?

Werner Herzog, die Zweite: Ein junger Mann ersticht seine Mutter mit einem Samuraischwert. Dazwischen: Udo Kier inszeniert eine Götterdämmerung, Flamingos und Straußvögel rennen um die Wette, ein junger Mann hat in Peru ein Erweckungserlebnis, Gott ist eine Weizenmehl-Büchse und Willem Dafoe versucht all das zu verstehen. Nur einen gibt’s, der hält alle Fäden in der Hand, weil er alles verstanden hat: Regisseur Werner Herzog

White Material

Claire Denis ganz groß in Form: Isabelle Huppert als Kaffeeplantagenbesitzerin in Afrika, deren Familie angesichts des drohenden Bürgerkriegs mutiert. Leichen pflastern die Straßen, ihr jugendlicher Sohn schert sich den Kopf kahl und schließt sich den Rebellen an. Noch ein Film zur Zeit.

Between two Worlds

Vimukthi Jayasundara tut man keinen Gefallen, vergleicht man ihn mit dem thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul. Gemacht haben es viele, stimmen tut es nicht. The Last Picture Show: Ein bildgewaltiges Märchen von einem Mann, der aus dem Himmel fällt und durch eine Seelenlandschaft irrt, die nicht Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft ist. Männer sitzen in Bäumen, berittene Krieger galoppieren über die Hügel, Bomben knallen, schlagen aber nicht ein. Ein vollkommen immersives Erlebnis, eine Erweckungsfahrt für alle Sinne.

Straßenkampf

La Biennale di Venezia

Micky Mouse stirbt, wie es sich gehört, zwischen Fernsehern, wir ziehen weiter "Between two Worlds"

Brooklyn’s Finest

Training Day-Regisseur Antoine Fuqua inszeniert einer harten, heftigen Polizei-Actioner, der aussieht und sich anfühlt wie aus den Siebzigern: Richard Gere gibt den alten, abgehalfterten Cop, der sein Gewissen an der Stechuhr liegen lässt. Ethan Hawke versucht als unterbezahlter Streifenbulle seine Familie zu ernähren, findet aber heraus, dass er das nur mit einem Verbrechen schaffen wird. Und Wesley Snipes liefert als geläuterter Ex-Knacki eine der besten Vorstellungen seiner eindrucksvollen Karriere.

Repo Chick

Kult-Meister Alex Cox lässt eine Paris Hilton-Kopie im Zug nach Nirgendwo fahren. Mit an Bord: eine Terrorgruppe und sowjetische Sprengkörper. Die Forderung: der Golfsport soll kriminalisiert werden. Cox inszeniert zuckerlbunt, entweder vor Greenscreens oder mit Modelleisenbahnen.

Pink

La Biennale di Venezia

Gestrandet im Paris Hiltonversum: Repo Chick

Survival of the Dead

Fette Horror-Allegorie von Zombie-Meister George A. Romero: Soldaten flüchten auf eine einsame Insel im Atlantik, auf der sich zwei rivalisierende Familie seit Jahrzehnten bekämpfen, obwohl keiner mehr weiß, wieso eigentlich. Zwischen abgerissenen Köpfen und ausgeweideten Körpern liegt Romeros unerschütterlicher Humanismus begraben. Der wertvollste Film des Jahres.

nackte Frau

La Biennale di Venezia

Tinto Brass inszeniert sich einen im Hotel Courbet

Hotel Courbet

Erotica-Legende Tinto Brass lässt seine junge Frau zwischen Spiegeln masturbieren, Spermatropfen hängen in ihren Schamhaaren. Ein Dieb räumt ihre Villa leer, trägt die Erinnerungen an das gute Leben in die Freiheit. Am Ende zeigt sich his Tinto-ness Hitchcock-gleich hinter der Kamera und stellt fest: "Kunst darf nicht keusch sein!" Reine Weisheit von einem großen Belächelten des Gegenwartskinos.

The Hole

The Great Return of Joe Dante mit einem feisten Fantasiefilm um zwei Kinder, ein Loch im Boden und all die Geister, die daraus hervor kriechen. Natürlich in 3D. Keiner beherrscht das Kinospiel so gut wie Dante, Großmeister der B-Ästhetik und der popkulturellen Anspielungen.

Lola

Der philippinische Regisseur Brillante Mendoza zeigt nach "Kinatay" im Wettbewerb von Cannes in Venedig schon wieder einen neuen Film: und was für einen. "Lola" ist Tagalog für Großmutter. Zwei alte Damen irren durch die Slum-Labyrinthe von Manila. In den Ecken schnüffeln Kinder Klebstoff, gründen Banden, kaufen Waffen. Der Enkel der Einen erschießt den Enkel der Anderen: irgendwann treffen die Großmütter aufeinander. Ein Märchen davon, wie die Traurigkeit besiegt werden kann.

Die (offiziellen) Preise

Venezia 66

  • Golden Lion for best film: Lebanon by Samuel MAOZ (Israel, France, Germany)
  • Silver Lion for best director: Shirin NESHAT for the film Zanan Bedone Mardan (Women Without Men) (Germany, Austria, France)
  • Special Jury Prize: Soul Kitchen by Fatih AKIN (Germany)
  • Coppa Volpi for Best Actor: Colin FIRTH in the film A Single Man by Tom FORD (USA)
  • Coppa Volpi for Best Actress: Ksenia RAPPOPORT in the film La doppia ora by Giuseppe CAPOTONDI (Italy)
  • “Marcello Mastroianni” Award for Best New Young Actor or Actress: Jasmine TRINCAin the film Il grande sogno by Michele PLACIDO (Italy)
  • "Osella" for Best Technical Contribution: Sylvie OLIVÉ for the film Mr. Nobody by Jaco VAN DORMAEL (France)
  • "Osella" for Best Screenplay: Todd SOLONDZ for the film Life during Wartime by Todd SOLONDZ (USA)

Orizzonti

  • Orizzonti Prize to Engkwentro by Pepe Diokno (Philippines)
  • Orizzonti Prize for Best documentary to 1428 by DU Haibin (China)
  • Special Mention to Aadmi ki aurat aur anya kahaniya (The Man’s Woman and Other Stories) by Amit Dutta (India)