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Burstup

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14. 9. 2009 - 16:22

Sitzenbleiben?

Der Klassenwiederholung, einem Relikt aus dem 19. Jahrhundert, geht es an den Kragen.

Den Bewahrern des alten Schulwesens sitzt der Schreck tief in den Knochen. Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) will das Sitzenbleiben abschaffen. Geht denn das? Schmied hat in der Sendung "Hohes Haus" nicht nur die Gründe für ihre Forderung angeführt, sondern auch erklärt, in welches Konzept die Abschaffung der "Ehrenrunde" eingebettet sein wird.

Pro Jahr bleiben in Österreich ca. 25.000-35.000 SchülerInnen sitzen. Die Kosten dafür betragen ungefähr 900 Millionen Euro. Das Prinzip der Klassenwiederholung gibt es nicht nur in Österreich - aber andere Länder wenden es seltener an, und in 16 europäischen Staaten wurde das Sitzenbleiben ganz abgeschafft, darunter Norwegen, Schweden, Dänemark oder Italien. Dort, wo die SchülerInnen automatisch aufsteigen, müssen sie auch im nächsten Jahr jene Unterrichtsmodule besuchen, in denen sie negativ waren, bzw. entsprechende Förderkurse besuchen.
Genau das wünscht sich Unterrichtsministerin Schmied auch in Österreich: "Es geht einfach darum, dass Schülerinnen und Schüler nicht im wahrsten Sinn des Wortes zurückversetzt werden, also ein ganzes Jahr wiederholen müssen. Es geht mir darum, individuelle Förderungen anzubieten, sodass dann das Ziel – die einzelnen Kompetenzniveaus – auch erreicht werden. Also stärkere Individualisierung in Richtung Kurssysteme."

Schüler in einer Klasse

dpa/Bernd Weißbrod

Die Kritik an den Plänen Schmieds ist harsch. Fritz Neugebauer (ÖVP), Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, beschreibt in der Sendung "Hohes Haus" am Sonntag das Sitzenbleiben "nicht als Strafe", sondern "als eine Chance für jene Schülerinnen und Schüler, die in ihrer Entwicklung retardiert sind." Ohnehin gäbe es "gewichtigere Probleme im Schulwesen", und er hofft "dass wir uns auch dem zunehmendem Thema Gewalt in der Schule widmen."

Gewalt?

Tatsächlich liegen zur Frage, ob Gewalt an Schulen innerhalb der letzten Jahre angestiegen sei, noch keine repräsentativen Langzeituntersuchungen vor. Wissenschafter sprechen von einer anderen Formen der Gewalt. Und davon, dass Mobbing und Prügeleien aufgrund von Handykameras und Youtube erstmals auch außerhalb der Schule sichtbar geworden sind. Angesichts der Bilder und Videos verkauft sich die Angstmache von Politikern gut: Mit der "zunehmenden Gewalt" im Gepäck ist es leicht, für Disziplin und Ordnung einzutreten – und für das Sitzenbleiben, das natürlich keine Strafe ist, außer für die Retardierten und Gewalttätigen, die zuviel Egoshooter spielen. So funktioniert die Logik der Bewahrer eines Schulsystems aus dem 19. Jahrhundert.

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Morgen, 15. September gibt es ein Phone-In zum Thema "Sitzenbleiben abschaffen" in der FM4 Morningshow (6-10)

Fritz Neugebauer spricht in der Sendung "Hohes Haus" davon, die "Leistungsbereitschaft von Schülerinnen und Schülern zu fördern", findet gleichzeitig aber nichts dabei, jemanden, der in ein bis zwei Fächern schwach ist auch zehn andere wiederholen zu lassen. Das ist absurd.

Verständnis für die Kritik des Beamtengewerkschafters zeigt heute auch Bundesschulsprecher Nico Marchetti von der (ÖVP-nahen) Schülerunion: Er unterstellt Claudia Schmied "Populismus" und einen "Etikettenschwindel", weil sie mit der Forderung nach Abschaffung des Sitzenbleibens an die Öffentlichkeit ging, "obwohl man in Wahrheit dann das ganze Schulsystem ändern müsste in Richtung Modulsystem. Dann sollte die Forderung aber heißen 'Schmied will ein Modulsystem', und nicht 'Schmied will das Sitzenbleiben abschaffen."

Spielt der Bundesschulsprecher hier absichtlich den Unwissenden, oder hat er tatsächlich nicht aufgepasst - denn es ist gerade dieses Konzept eines Kurs- und Modulsystems, von dem Claudia Schmied bei der Präsentation ihrer Pläne gesprochen hat. Die von Marchetti, Neugebauer und anderen Reformgegnern immer wieder betonte "Dialogbereitschaft" zeigt sich im beleidigten "Schnellschuss"-Geschrei nicht wirklich. Klar ist, dass es sich bei der Ankündigung Schmieds noch nicht um ein ausgereiftes Reformkonzept handelt, und dass das großkoalitionäre Hickhack rund um die Bildungspolitik jetzt erst losgeht. Es wird wahrscheinlich den ganzen Herbst andauern. Wirklich zuhören muss man jetzt den Bildungsexperten, die die Abschaffung des Sitzenbleibens bereits seit Jahren fordern.