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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

14. 9. 2009 - 16:47

Journal '09: 14.9.

Tugend. Und Wehrhaftigkeit.

Ja, das ist - wenn auch um ein Eck weitergedacht - noch ein Beitrag aus der kleinen Debatten-Reihe um Probleme der Generation 20-29.

Irgendetwas an der vorwöchigen Replik von Ingrid Brodnig fühlte sich seltsam an, ohne dass ich es benennen konnte. Wie ein Steinchen im Schuh, das nicht wirklich zu verorten ist.
Ich meine damit nicht den Umstand, dass sie einen Außenstehenden hernimmt, um über diesen Umweg den eigentlichen Adressaten, ihren Übervater, die alles erdrückende Falter-Chef-Figur Armin Thurnher indirekt und straffrei als alten Sack abwatschen zu können - das war sofort klar. Es war etwas anderes, eine mich störende Themen-Vermengung oder eine Argumentationslinie, aber ich kam nicht drauf, auch weil ich zu kurz drüber nachgedacht habe.

Mir ist das dann gestern abend wieder eingefallen, als sich Sloterdijk und Safranski im Philosophischen Quartett des ZDF mit dem verstaubten Thema "Tugend" auseinandersetzten. Und zwar weil sie da was stört, in der Debatte rund um die vielzitierten "Werte". Und weil das superschlaue Dauerdenker sind, können sie's auch benennen; und wir Teilzeitdenker, die wir uns die meiste Zeit mit Alltags-Unfug herumschlagen müssen, die Brodnigs und Blumenaus, die können dann aus dem Aha-Effekt was lernen.

Sloterdijks Einführungs-These lautete etwa so: Die Sonntagsreden, die sich auf "Werte", auf "Rechte" oder auf "Pflichten" bezögen, als ob das Leben die Börse, die Justiz oder die Kaserne wäre, wollen sich mit diesem verallgemeinernden Outsourcing um den entscheidenden Faktor drücken: Um die dauernde Evaluierung (sie nannten das in der Folge "Übung") von Tugenden.

Sonntagsreden, Werte und Tugenden

Die Tugend an sich ist nämlich etwas individuelles, personalisiertes und personalisierendes. Die dauerzitierten Werte hingegen können auch unabhängig von der eigenen Person stattfinden, sind also für jeden Dreckskerl zitierbar.

Das ist es, was Ingrid Brodnig in ihrer wehrhaften Replik stört - dieses Auseinanderdividieren von Werten und Tugenden; als könnte man (durch die Gnade der frühen Geburt) auf die Übung der Tugenden verzichten, weil man ja ein Wertesystem für die anderen (also die Jüngeren) geschaffen hat.

Brodnigs Musterbeispiel ist das "Sich-Zuschütten", nicht weil ich das irgendwo irgendwann angesprochen hätte (im Gegenteil), sondern weil sie - zurecht - von der 27. undifferenzierten Generation Komatrunk-Diskussion angepisst ist. Dass sie mit diesem zusätzlichen Aspekt eine eh schon komplizierte Diskussion noch weiter verstopft: Seisdrum. Denn: lustigerweise titelte gestern der Sonntagskurier dann wieder genau damit. Was ihr im Nachhinein also recht gibt.

Ein verlogenes Wertesystem, eine bigotte Moral, die Alkohol als "böse", vor allem für "die Jugend" hinstellt, aber sein gesamtes gesellschaftliches Kommunikations-System darauf aufbaut, ist nicht nur zum Kotzen, sondern verspielt alles.

Die Tugend an sich.

Damit wir uns da auf ein einheitliches Level begeben, auf dem auch Sloterdijk, Safranski und die Gäste (die Autorin Thea Dorn und der jesuitische Publizist Klaus Mertes) diskutierten: es geht um die Tugend im aristotelischen Sinn (also als Weg zum Glück).
Es geht um die vier klassischen Begriffe von Klugheit (weniger als Weisheit, sondern mehr als Offenheit und Einsicht), Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß (im Sinn von Mäßigung, dem Abwägen der Gelüste).
Es geht um ritterliche/christliche Tugenden wie Glaube, Liebe und Hoffnung, wie Großgesinntheit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Güte, Demut, Barmherzigkeit oder Friedfertigkeit. Und es geht weniger um bürgerliche Tugenden wie Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Reinlichkeit und Pünktlichkeit, mit denen man ja auch "ein Konzentrationslager leiten kann" (habe vergessen, von wem dieses bittere Zitat ist).

Wichtig: die Tugend ist kein Charakter- oder Wesenszug, sie ist auch nicht kulturell determiniert, sie entsteht durch Übung.
Sie ist also jedem zugänglich.

Das sind natürlich auch alles Dinge, die sich von einer Mehrheitsgesellschaft trefflich als Druckmittel einsetzen lassen, alles Fertigkeiten, die eine Elite nützen kann, um sich abzugrenzen, alles für reine Sonntagsreden vorgestanztes Floskelwerk, um sich in politisch und soziologisch begründeten Debatten über andere zu erheben.
Und im ewigen Konflikt der Generationen wurde und wird dieses Material immer (und fast immer bösartig) eingesetzt.

Wozu?

Die Fragen, die sich nach dieser Begriffsklärung stellen, sind simpel.
Wozu braucht es einzelne Tugenden, wozu braucht es jegliche Tugend? Macht sie irgendjemanden fit für irgendetwas? Wer vermittelt sie glaubwürdig?
Lauter Fragen, bei denen mir (am konkreten Beispiel des aktuellen österreichischen Zustands) Angst und Bange wird.

Die Philo-Quartett-Bande war sich einig, dass es kein Zufall wäre, dass diese Diskussion just jetzt, in der Sinnkrise des Kapitalismus aufpoppe, also nach Jahren, in denen von weiten Kreisen der Gesellschaft keine einzige der klassischen Tugenden ernsthaft betrieben worden war; wo es - im Gegenteil - als lässig galt, all das tunlichst zu vermeiden (die alte good/bad-Umdeutung mit Tugend und Laster also auf eine perverse Spitze getrieben).

Als übelstes aller Laster bezeichnete Safranski übrigens das Selbstmitleid, weil es eine ganze Wolke von Dumpfheit hinter sich herzöge und Anlaßgeber für den ganzen Rest sei.

Und dann sagte der Jesuiten-Pater, der auch Rektor einer Schule ist und ein im Bildungsfeld bekannter Publizist, etwas erstaunliches. Dass nämlich seiner Meinung nach die Tugend am stärksten, am konkretesten und am sichtbarsten wäre, wenn es sich um Widerstand, also um eine Gegenwehr Einzelner gegen unhinterfragte Modell handeln würde.
Die anderen (vor allem Thea Dorn) widersprachen da, meinten aber wohl, dass es sich nicht um einen Automatismus handeln würde. Klar: Der Nörgler um des Nörgelns willen, der Troll also, der seine (bescheidene) Kraft aus dem automatisierten Dagegensein zieht, ist nichts wert; und schon gar nicht tugendhaft.

Ein Kind der Übung, der Praxis

Trotzdem hat mich Klaus Mertes da auf was gebracht: Das Brave und schnell Verstummende, also die Untugend der 20-29jährigen, die Ingrid Brodnig verteidigt, hat keine Qualität, außer der des Selbstmitleids.

Der Hinweis darauf, dass andere, womöglich selbstgefällige alte Säcke, womöglich der eigene Chefredakteur, der sich vielleicht zu sehr in der Tugend der redundanten Forderung nach Mediengerechtigkeit genügt, auch nicht genug unternehmen, ist erlaubt, aber sinnleer.

Aber: es gibt keine Ausrede um die Tugend der Wehrhaftigkeit zu umschiffen und den Hafen der Selbstzufriedenheit anzusteuern. Es sei denn, man hat sich bereits aufgegeben.

Die Tugend, dieses angestaubt daherkommende, aber in jedem von uns schlummernde Ding, aber entfaltet ihre Wirkung nicht im Trockendock, sie ist ein Kind der Übung, der Praxis.
Es wäre fatal ihr das zu verweigern.