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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

11. 9. 2009 - 18:26

Götterdonnern

Wippende Brüste, wankende Zombies und ein unheimliches Loch: In Venedig geht das beste Filmfestival der Welt zu Ende

Man fühlt sich ein bisschen wie auf dem Olymp angekommen: Gestern Abend sitze ich einem Screening der diesjährigen Retrospektive hier am Lido di Venezia. Die nennt sich „Questi Fantasmi 2“, besteht aus über vierzig verlorenen, teilweise bis vor kurzem verschollenen italienischen Filmen, vorwiegend aus den 50er und 60er-Jahren. Wenn man eines auf Filmfestivals lernt, dann, dass es im Zweifel immer besser ist, sich für einen Klassiker zu entscheiden. Das soll sich jetzt nicht abgeklärt oder desillusioniert anhören. Ich bin sehr neugierig auf das aktuelle Filmschaffen, lasse mich dann auch gern anfixen von Inhaltsangaben oder bestimmten Schauspielern, für den Fall, dass ich den Regisseur/die Regisseurin nicht kennen sollte. Aber in so einer retrospektiven Schau sind halt die Preziosen aus oft mehreren Jahrzehnten Filmgeschichte wiederzuentdecken, und damit Arbeiten, die man mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr oder nur mehr ganz selten zu sehen bekommt.

Jetzt, wo ich das gesagt habe, kehre ich zurück in meine Erinnerung an den gestrigen Abend. Es ist schon ein leicht herbstlicher Tag in Venedig, nach 20 Uhr sinken die Temperaturen und ich schleiche kurz vor 22 Uhr, hundemüde von der Zeit die hinter mir liegt, in den kleinen, nur 150 Leute fassenden Sala Volpi, um mir eine Vorstellung von Elio Petris „Un tranquillo posto nella campagna“ anzusehen. Ich sitze in der ersten Reihe, drehe mich um und hinter mir steht ein immer noch gut aussehender Herr im Anzug und mit Sonnenbrille auf der Nase (im Kinosaal!), den ich nach kurzer Überlegzeit als Franco Nero identifiziere, seine Begleiterin erkenne ich als Vanessa Redgrave. Während also nebenan im Sala Grande grad die Weltpremiere eines Wettbewerbsfilms vonstatten geht, sitzen hier gute hundert Leute im Schachtelkino nebenan, um sich vermutlich einen der eigenartigsten Filme des italienischen Kinos anzusehen.

Herzschlottern

Un tranquillo posto nella campagna

Filmfestival Venedig

Un tranquillo posto nella campagna

„Un tranquillo posto nella campagna“ eröffnet mit einem abstrakten Vorspann, inklusive „Filmmaterialfehler“ (Hallo, Quentin Tarantino!), der von Ennio Morricones experimenteller TschingBummStreich-Musik torkelnd voran getrieben wird. Es folgt eine fast zweistündige Abfolge von surrealistischen, zeitweise frei heraus irrsinnigen Sequenzen: Franco Nero gibt für Petri einen mega-erfolgreichen Maler, der aus der Stadt flüchtet und sich am Land eine alte, herunter gekommene Villa kauft, diese renoviert und dort einzieht. Seine Frau findet die Abgeschiedenheit weniger aufregend und bald schon hat Mr. Blue Eyes unheimliche Visionen von einem jungen Mädchen, das sich wenig später als Gespenst heraus stellt: wie besessen veranstaltet er nächtens Happenings, zerstückelt eine junge Frau und rennt mit Weltkriegssoldaten durch die Gartenanlage der Villa. Zu diesem Zeitpunkt liegt mein Kiefer schon am Boden und ich fühle mich bestätigt in meiner Einschätzung, dass weniger Perioden im Weltkino mit der inszenatorischen Vision und gleichzeitigen Demenz des italienischen Kinos der 60er- und 70er-Jahre mithalten können. Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, dann kommt Tinto Brass daher.

Unkeusche Kunst

Nerosubianco

Filmfestival Venedig

Nerosubianco

Jeder assoziiert den Mittsiebziger aus Milan mit einer Reihe von Weichzeichner-Brustromanzen wie „PO Box Tinto Brass“: und obwohl ich auch viele dieser Softsex-Filme gerade aufgrund ihrer Zärtlichkeit und Leidenschaft (Brass ist jedenfalls ein Auteur, nur wovon, das ist die Frage) mag und schätze, ist es doch das frühe Werk des Italieners, das ich jedem Cinephilen ans Herz legen möchte. Filme wie „Col cuore in gola“ (1967), „L’urlo“ (1970) oder „Nerosubianco“ (1969), den ich gestern gesehen habe, kann man vielleicht am besten mit dem Begriff Pop-Extravaganz greifen. Brass zeigt sich darin angesteckt von den gesellschaftspolitischen Swings der Hippie-Generation, lässt seine Filme bruchstückhaft, wie in einem Essay, um einen Themenkomplex oder um eine Figuren kreisen. Die britischen Rocker von „The Freedom“ liefern die Musik, zu ihren Songs läuft Hauptdarstellerin Barbara (ein alternativer Titel des Films ist: „The Artful Penetration of Barbara“) durch die Stadt, versucht ihre Allerweltsbeziehung gegen eine heiße Affäre mit einem farbigen Mann (daher kommt auch der Titel des Films, der ins Deutsche übersetzt „Schwarz auf Weiß“ heißt) einzutauschen, wird aber von körperlichen und moralischen Zweifeln geplagt. Im Anschluss daran präsentierte Tinto noch die Weltpremiere seines neuen Kurzfilms „Hotel Courbet“, in dem sich seine Jetzt-Frau auf einem Bett räkelt und selbst befriedigt, während ein Einbrecher ihre Erinnerungen aus der Villa schleppt. Am Ende des 18-Minüters sieht man den Maestro, wie immer mit Zigarre im Mundwinkel, selbst hinter der Kamera stehen und das Axiom seines einzigartigen Kinos formulieren: „Kunst darf nicht keusch sein!“

Aus dem Leben der Toten

Survival of the Dead

Filmfestival Venedig

Survival of the Dead

In irgendeiner Weise würde das wohl auch George A. Romero unterschreiben, auch wenn der Alt-68er und Zombiepapa weniger auf nackte Haut als auf zerrissenes Fleisch, vor allem aber auf feiste Gesellschaftskritik steht. Sein „Survival of the Dead“, der insgesamt sechste Film seiner Zombiefilmreihe, ist vielleicht die beste Arbeit im diesjährigen Wettbewerb von Venedig. Romero erzählt darin von einer Soldaten-Truppe, die, um der Bedrohung durch die Untoten zu entgehen, auf eine kleine Atlantikinsel flüchten, auf der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Zwei Familiensippen bekämpfen sich dort seit Jahrzehnten, ganz wie in einem Western: und sie sehen keinen Grund damit aufzuhören, nur weil Zombies die Insel „Plum“ erobern. „Survival of the Dead“ handelt von Erzfeinden, von automatisierten Konflikten und Feindbildern, die mehr aus Gewohnheit aufrecht erhalten werden. Romeros Film hat alles und nichts zu tun mit der gegenwärtigen Welt: wie immer öffnet der Horror-Meister sein Film hin zum Allegorischen und wer will, kann darüber vermutlich eine Doktorarbeit verfassen. Aber es ist eben nicht der Seinszweck seines Kinos: Romero hat gleichzeitig auch eine kindliche Freude daran, sich neue Todesarten für seine Zombies und Nicht-Zombies zu überlegen, das Publikum zu überraschen und herauszufordern. Auch deshalb sind seine „of the Dead“-Filme ein immer noch weiter entstehendes Opus Magnum. Ich persönlich kann den nächsten Teil schon gar nicht mehr erwarten.

Dantes Höllenreise

The Hole

Filmfestival Venedig

The Hole

Noch ein aufrechter Hollywood-Linker feiert hier in Venedig nicht seine Wiederauferstehung, aber jedenfalls ein kleines Comeback mit einem großen Triumph. Corman-Alumni und „Gremlins“-Papa Joe Dante hat nach seinem hintersinnigen, liebevollen Liveaction-Animationsfilm „Looney Tunes: Back in Action“ (2003) endlich wieder einen Film finanziert bekommen. Nicht von einem großen Studio wohlgemerkt, denn die meiden Dante und seine aufrichtigen, oftmals schwer zu kategorisierenden Genrefilme wie der Teufel das Weihwasser. In der Nacht auf Freitag jedenfalls präsentierte der US-Regisseur, der heuer auch in der Wettbewerbsjury sitzt die Weltpremiere von „The Hole“: ich kann schon mal vorausschicken, dass das der erste 3D-Film ist, den ich dieses Jahr gesehen habe und der mich vollkommen von dieser Technologie überzeugt hat. Das mag zu einem Gutteil daran liegen, das Dante sie verwendet wie kein anderer: der Regisseur mit seiner großen Liebe zum B-Film- und Spektakelkino inszeniert die drei Dimensionen so galant, funktional und doch angefüllt mit Referenzen und visuellen Gags wie davor schon seine „flachen“ Arbeiten. Er erzählt von einer allein erziehenden Mutter, die mit ihren beiden Söhnen, einer ist 17, der andere noch ein Kind, von Brooklyn in eine jener beschaulichen Kleinstädte zieht, die bei Dante immer gleichzeitig wertvolles und warmes Erinnerungsreservoir und Hort des Schreckens sind. Beim Spielen entdecken sie eine Kellerluke und das Titel gebende, scheinbar bodenlose Loch darunter. Bald schon sehen sich die Jungs und das Nachbarmädchen mit unheimlichen Geschehnissen konfrontiert und müssen sich ihren jeweils größten Ängsten stellen. „The Hole“ ist kein Horrorfilm, eher ein düsteres, aber auch humoriges Fantasymärchen: für mich einer der besten Filme des Jahres.

The Movie Orgy

An Joe Dante merkt man auch, wie sehr gute Filmemacher auch der Filmgeschichte, aus ihren eigenen Erinnerungen herauswachsen; dass all die Trends, Bewegungen und Kategorisierungen eigentlich nur Hilfestellungen sind, um dem großen Fluss irgendwie beizukommen. In Venedig zeigte der Regisseur auch einen eine neue, viereinhalbstündige Schnittfassung seiner „Movie Orgy“, einem Found Footage-Kompilationsfilm, den er in den Siebzigern während seiner Zeit bei Roger Corman nach endlosen Wühlereien und Recherche-Sessions zusammen gebaut hat und der aufgrund der vertrackten bis unmöglichen Copyright-Situation bisher nur ein paar Mal aufgeführt werden konnte. Aufgebaut ist die immens kurzweilige Mammutreise auf den B-Movies „Attack of the 50 Foot Woman“, „College Confidential“ und „Speed Crazy“, die angeleitet von thematischen Überbauten oder manchmal auch nur visuellen Schmähs angeordnet und kontinuierlich von anderen Preziosen der Fernseh- und Filmkultur der 50er- bis 70er-Jahre durchbrochen werden. Darunter Zahnpasta-Werbungen, „Andy’s Gang“, die vermutlich unheimlichste Kindersendung der Welt, in der ein dicklicher, überfröhlicher Mann unter anderem eine Katze an ein Miniaturklavier bindet (!) und zahllose Ausschnitte aus TV-Serials und Erziehungsfilmen mit Ratschlägen wie man seine Prom Night zu einem wirklich unvergesslichen Erlebnis macht. Wenn man so will, dann ist das das Rückgrat von Joe Dante, das wilde, bunte und anarchische Herz dieses Ausnahmeregisseurs.

Am Samstag werden hier in Venedig die Preise verliehen. Ich melde mich dann noch mal mit einem Kommentar dazu und mit meinen zehn persönlichen Lieblingsfilmen dieser 66. Mostra dell’ Arte Cinematografica.