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Rafael Reisenhofer Osnabrück

Lebt und studiert in Osnabrück

15. 9. 2009 - 18:00

Mathe kann man nicht verstehen

Zu Schulbeginn ein kleiner Trost.

In meiner persönlichen Jahresbestenliste der vorhersehbarsten häufigen Gespräche sicher ganz weit vorne:

Ich: Hey.
Gegenüber: Hallo.
I: Und du bist auch aus Wien?
G: Ja ne, eigentlich Niederösterreich. Aber jetzt wohn ich auch schon zwei Jahre hier. Zum Studieren halt.
I: Achso, Studieren!
G: Mh.
I: Ja, und was studierst du?
G: Medizin.
I: Ah, spannend!
G: Und du?
I: Technische Mathematik.

Mein geschätztes Gegenüber vermag nun seine Empfindungen vorübergehend nicht in Worte zu fassen und rettet sich in ein gequält zusammengekniffenes Gesicht. Ich blicke betreten und erwarte das Unvermeidliche.

G: Also Mathe hab ich ja nie wirklich verstanden, damals in der Schule. Hab mich da immer irgendwie durchgeschmuggelt. Was bin ich froh, dass das jetzt hinter mir ist!
I: Mh.

An dieser Stelle gebieten Mitgefühl und christliche Nächstenliebe wohlverdienten Trost zu spenden. Schließlich gilt: wer behauptet (Schul-)Mathematik verstanden zu haben, ist entweder ein Lügner oder Perelman. Denn tatsächlich sind viele jener mathematischen Werkzeuge, die einem am Weg zur Matura als teils unverzichtbares Basiswissen verkauft werden mit reinem Schulwissen unmöglich zu begreifen. Stofflich aufbauend - von wegen!

Kurzer Nachtrag:

Neben der Cramerschen Regel ließen sich viele weitere Beispiele finden, allerdings wenige, die so früh im Stoff schon so weit weg von selbigem sind. Abgesehen davon ist sie in heimischen Schulen tatsächlich sehr verbreitet. Neben meiner ehemaligen zum Beispiel auch hier, hier, hier, oder hier.

Wer sich übrigens die Freude macht, die offiziellen Lehrpläne zu studieren wird feststellen, dass diese zwar sehr schön klingen, allerdings viel zu vage gefasst sind, um aus ihnen im Ansatz allgemeingültige Aussagen abzuleiten.

Schließlich und endlich gilt wie so oft: über die Güte des Unterrichts entscheiden vor allem Engagement und Kompetenz des Lehrers bzw. der Lehererin.

Zum Beispiel die Cramersche Regel

Sagen wir der Pepi ist Personalchef von der ÖBB und hat gerade erfahren, dass die faulen Säcke von Neumarkt-Kallham im vergangenen Monat ganze 12 Tage an Krankenständen zu verbuchen hatten, während in Bad Mitterndorf - wohl eine direkte Folge der von ihm gestarteten Kampagne zur Gesundheitsvorsorge - nur mehr 7 Tage krankgeschrieben worden waren. Außerdem weiß der Pepi, dass in Neumarkt-Kallham 3 Männer und 5 Frauen arbeiten, während in Bad Mitterndorf ein Verhältnis 8 zu 2 vorliegt. Und weil der Pepi immer schon der Meinung war, dass Frauen für so technisches Zeug nicht geeignet wären, würde er sich jetzt gerne ausrechnen, dass selbige eben lieber Knochenbrüche vortäuschen denn brav arbeiten zu gehen und dieses statistische Meisterstück bei der nächsten Vorstandssitzung präsentieren. "Da krieg ich dann sicher einen fetten Bonus!", denkt er noch und setzt sich zufrieden lächelnd an seinen Schreibtisch.

Radio FM4

Dass der Pepi offensichtlich genau so grauslich schreibt wie ich kann nur ein Zufall sein.

Wir erkennen: der gute Pepi steht vor einem linearen Gleichungssystem mit zwei Unbekannten (Krankentage pro Frau/Mann) und kann, um selbiges zu lösen, frohen Mutes zur Anwendung der Cramerschen Regel schreiten. Was der Pepi allerdings nicht weiß ist, dass eine quadratische Matrix genau dann regulär ist, also vollen Rang besitzt, wenn ihre Determinante verschieden von 0 ist. Woraus sich wiederum folgern lässt, dass das von ihr mitbestimmte homogene lineare Gleichungssystem genau eine Lösung besitzt. Überhaupt hat der Pepi nicht besonders viel Ahnung, was Determinanten überhaupt sein sollen, weswegen er wohl überrascht wäre zu erfahren, dass es deren Multilinearität ist, welche die Cramersche Regel erst ermöglicht.

Nachdem nun derartiges Vorwissen auch für 15-jährige GymnasiastInnen eher unüblich ist, wird die Cramersche Regel in der 9. Schulstufe - wo sie hierzulande ziemlich flächendeckend zum Pflichtstoff zählt - meist wie folgt vermittelt:

Um auf die richtige Lösung zu kommen muss man einfach der Reihe nach die Spalten der linken Seite mit der rechten Seite vertauschen, davon die Determinanten bilden und jeweils durch die Determinante der Ausgangsmatrix dividieren. Eine Determinante ist, wenn man die Nebendiagonalen von den Hauptdiagonalen abzieht. Also linksoben mal rechtsunten minus rechtsoben mal linksunten. Und dann kommt das Richtige raus! Ja, wirklich? Wirklich!

Psychologie und perfides Verscheissern

Erste Konsequenz dieser unmathematischen Annährung an mathematische Sachverhalte ist, dass die Leistung eines Schülers weniger in Verständnis oder logischem Talent, denn in seiner Psychologie begründet liegt. Letztlich geht es nicht so sehr um das Begreifen, sondern um die zweifelhafte Fähigkeit, augenscheinlich beliebige von der Professorenschaft vorgetragene Kochrezepte gewissenhaft auszuführen, im blinden Vertrauen, dass am Ende schon das Richtige rauskommen würde. So scheitern die meisten SchülerInnen nicht vorrangig an der Mathematik, sondern an einem - aus natürlichem Unverständnis gewachsenen - Misstrauen.

Verschärft wird die Situation durch den weit verbreiteten Ansatz, dass den SchülerInnen ein tieferes Verständnis der Materie ohnehin nicht zuzutrauen wäre. Zwar würde es tatsächlich den Rahmen des Unterrichts sprengen, jeden Satz umfassend herzuleiten und zu begründen, warum allerdings so grundlegende Dinge wie die axiomatische Definition der Natürlichen Zahlen meist ausgespart bleiben ist mir ein Rätsel. Wie man in Folge von SchülerInnen verlangen kann, so etwas abstraktes wie ein Zahlensystem samt Rechenoperationen tatsächlich zu begreifen, nachdem ihnen zu diesem Zweck nicht mehr als vage Beschreibungen der Marke "erst 1, dann 2, dann 3 und so weiter und so fort" geboten wurden, übrigens auch.

Im Endeffekt ist der Großteil eines klassischen Oberstufen-Unterrichts in Mathematik eine besonders perfide Form des - gestatten Sie mir den Ausdruck - Verscheisserns. Während man für zu dumm gehalten wird, etwas zu verstehen, wird man für dumm erklärt, sollte man etwas darauf basierendes nicht können. Dabei würde es oft reichen, den SchülerInnen ein wenig mehr Vertrauen zu schenken, oder beizeiten tröstend auf die Unmöglichkeit des Verstehens hinzuweisen und den Lehrstoff als das zu verkaufen, was er zu weiten Teilen tatsächlich ist: ein spannender, wichtiger und aufschlussreicher - aber nie und nimmer nachvollziehbarer - Einblick in die weite Welt der Mathematik.