Erstellt am: 11. 9. 2009 - 16:49 Uhr
K.O., O.K.
Einunddreißig Milliarden Suchabfragen verzeichnet Google angeblich monatlich. Unwesentlich weniger Fragen stellt ein fünfjähriges Kind, und weil die Fünfjährige in meinem Haushalt noch nicht vollständig der Alphabetisierung unterworfen wurde und den Computer völlig zurecht als Nogo-Area internalisiert hat, weil pickate Flüssigkeiten über die Tastatur schütten kann ich selber, richtet sie ihre Fragen an diejenige, die für sie allwissend, kostenlos und 24/7 verfügbar ist, also die Mama. Ich bin für meine Tochter quasi eine lebendige Antwortmaschine, und ebenso wie ich digital die Antworten herausfiltere, die ich für relevant und glaubwürdig befinde, legt sie analog einen Filter über meine Aussagen und sucht sich das raus, was in ihr Weltbild grad so reinpasst.
Letztens also, nach der abendlichen Vorlesestunde, während ich bereits mit Augen auf Halbmast in Richtung Fernsehcouch schiele, fragt sie mich: "Wer hat eigentlich die ganzen Wörter erfunden?" Während ich mir im Schneckentempo im Kopf eine grundsätzliche Antwort zurechtzimmere, die ich danach auf Vorschulkindniveau brechen könnte, schießt sie schon die Folgefragen nach: "Und wieso kennen wir diese Wörter? Wer hat sie uns gesagt?"
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Ich erspare euch an dieser Stelle meinen kurzen, äh, Abriss der Weltgeschichte. Jedenfalls ging es dann noch eine Weile um Worterfindungen, Mutmaßungen über die ersten Worte der ersten Menschen (Ich: "Hunger!", sie: "Mama!"), Höhlenzeichnungen und die Erfindung des Buchdrucks, und als das Kindlein nach gefühlten dreieinhalb Stunden endlich zufrieden die letzten Säfte aus der müden Suchmaschine gequetscht hat und sich in den für mich wohl verdienten Schlaf atmete, fiel mir ein, was eine Freundin, die in der Verlagsbranche arbeitet, vor kurzem zu mir gesagt hat: "Es gibt viel zu viele Bücher auf der Welt. Es gibt viel zu wenige Bücher, die unbedingt geschrieben hätten werden müssen."
Darüber lässt sich ausgiebig diskutieren, zumindest unter Erwachsenen, alles eine Frage des Standpunktes, wie immer im Leben, es soll ja auch Menschen geben, die "Inglourious Basterds" für völligen Schwachsinn und komplett unnötig halten. Alle 30 Sekunden wird auf der Welt ein Buch veröffentlicht, Buchhändler müssen theoretisch etwa 50.000 Neuerscheinungen pro Jahr verwalten, im Schnitt stellt FM4 zwei davon pro Woche vor, womit wir wieder beim Thema Filter wären, kein Wunder also, dass sich die Zahl der ungelesenen Bücher, die in Privatwohnungen gehortet werden, ins Unendliche steigert.
Seit ich Bücher selber lese, das sind jetzt auch schon mehr als fünfundzwanzig Jahre, ist es mir ein einziges Mal passiert, dass ich einem Menschen gegenüber gesessen bin, der zur exakt selben Zeit das gleiche Buch gelesen hat. Das war 1999, das Buch hieß „Hannibal“, vom amerikanischen Autor Thomas Harris. Das Buch würde ich persönlich im Nachhinein als eher verzichtbar betrachten, aber was mir ewig in Erinnerung bleiben wird, ist, dass mein damaliges Gegenüber, eine mir fremde Frau in der Münchener Ubahn, diese Koinzidenz nicht mal beachtet hatte, während ich mich darüber innerlich ähnlich hysterisch gefreut hatte wie ein fünfjähriges Kind, das von der Mama auf die Frage "Darf ich heute zwei Eis haben?" seelenruhig die Antwort "Sicher!"entgegengelächelt bekommt.