Erstellt am: 8. 9. 2009 - 16:27 Uhr
A Night Out By The Seaside
"They will not control us, we will be victorious", schallt es von der Open Air Bühne im Stadtpark von Teignmouth bis weit über die Absperrungen des Geländes hinaus, auch zu jenen, die keine Tickets mehr erwischten, sich die 37 Britischen Pfund – etwa 43 Euro – nicht leisten wollten/konnten oder sowieso einfach nur planten, Zaungäste zu sein an diesem Abend, der vielmehr Volksfest war als bloß ein Rockkonzert.
Muse beginnen mit der aktuellen Single "The Uprising". Die Zähne noch etwas zusammengebissen, obwohl am Abend davor beim ersten Auftritt in Teignmouth schon alles mehr als gut gegangen war, zeigt sich Matt Bellamy sofort in bester Manier des neurotic boy outsider. Bellamy scherte sich in den 90er Jahren einen Dreck um das, was dann als Britpop in die Musikgeschichte einging, sondern werkte an seinem ganz eigenen musikalischen Ding - einer Art inbrünstigem Rokoko-Indierock, von manchen dann irgendwann gern als Schmalspur-Radiohead abgetan, aber eben doch nur von manchen. Zuhause war Matt Bellamy damals im beschaulichen Küstenort Teignmouth in der Grafschaft Devon, dem nicht ganz äußersten Winkel des britischen Südwesten, aber fast. Wer – so wie ich - wegen dem Muse-Ereignis im Ort kein freies Zimmer mehr bekommen hatte, musste etwa auf die College-Stadt Exeter ausweichen und von dort dann ungefähr eine halbe Stunde mit dem Bus an die Küste runterfahren; auf engen Landstraßen, in der Abenddämmerung vorbei an Feldern mit turtelnden Fasanen-Pärchen und weißen Schwänen samt hässliche-Entlein-Nachwuchs auf kleinen Flüssen und Seen, vorbei an Pubs mit Namen wie Smugglers Inn oder The Laffin Pig, vorbei an den schlafenden Booten im schlammigen Ebbe-Hafen von Exmouth. Englisches Landschafts-Idyll wie aus dem Bilderbuch.
Radio FM4/Eva Umbauer
Dann aber endlich Teignmouth, Heimatstadt dieser drei großen britischen Rock'n'Roll Söhne. Muse sind, sage und schreibe, seit vierzehn Jahren hier nicht mehr aufgetreten. Nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil der Ort für Bands dieser Größe nicht wirklich Platz bietet und weil Teignmouth schlicht und einfach einfach kein britischer Musik-Hotspot ist. Teignmouth ist nicht etwa Brighton, das eine kleine aber lebhafte Musikszene hat. Die viktorianische Pier und die herrlichen Häuser an der Seafront müssen sich gewiss nicht verstecken, aber Teignmouth ist eben West Country, ein wunderlich abgelegenes englisches Stück Erde. Der Flecken Erde, auf dem Muse vergangenes Wochenende ihre beiden Homecoming-Gigs spielten, nennt sich The Den und ist die Park-Grünfläche zwischen Strandpromenade und den Häusern, die aufs Meer blicken.
Radio FM4/Eva Umbauer
The (West Country) Boys Are Back In Town
Wird das Wetter halten? Das ist nicht nur meine bange Frage, sondern auch die der beiden Gewinnerinnen der FM4-Muse-Konzertreise: Verena und Birgit, die erst einmal in den (noch) verwaisten Strandstühlen an der Promenade Platz nehmen. Die Wellen krachen unerbittlich gegen die Strandmauer, obwohl es gar nicht windy ist, entgegen der Wetterprognose. Wir erwischen diesen südwestenglischen Küsten-Sommer gerade noch am Rockzipfel und versuchen ihn mit aller Kraft festzuhalten. Der Anblick der einheimischen Kinder, die kein kaltes Meerwasser zu scheuen scheinen, hilft uns dabei. It´s getting chilly now, end of summer. "We had a lot of rain this summer", sagt eine Konzertbesucherin, die schon am frühen Abend auf den Einlass wartet. Auch in diesem Sinn kommen Muse gerade recht: Fehlende Tourismus-Einnahmen werden quasi mit einem Streich aufgehoben. Busse aus Bristol etwa, aus Birmingham, Nottingham und aus der London-Area sowieso, sind in der Stadt, ganz abgesehen von den zahlreichen japanischen Fans, die extra angereist sind zu diesen Pre-Album-Release-Konzerten von Muse. Die Einnahmen gehen übrigens an karitative Organisationen.
Radio FM4/Eva Umbauer
Werden Muse also eher das neue Album spielen, aber hoffentlich dabei eh nicht auf die Klassiker vergessen? Gestern, so sagen zwei Fans aus Essex, nahe London, die Muse schon neun Mal (!) live erlebten, waren vier oder fünf neue Stücke zu hören, der Rest heißgeliebte und längstverinnerlichte alte Songs. Die beiden müssen es wissen – echte Fans sind schließlich an beiden Abenden hier. Andere wiederum sind Novizen in Sachen Muse, auch wenn sie local boys and girls sind, die schon mal behaupten, sie würden Matt Bellamy persönlich kennen. Oder zumindest Chris Wolstenholme. Der Bassist lebt im Gegensatz zu Matt Bellamy und Drummer Dominic Howard weiterhin in Teignmouth, wenn man nicht gerade auf Tour oder im Studio ist. I know someone who knows someone who knows Matt Bellamy…
Radio FM4/Eva Umbauer
Motorboote drehen ihre letzten Runden, nur die Küstenwache im dicken schwarzen Gummischlauchboot wirft weiterhin ein dezent wachsames Auge auf das (friedliche) Treiben. Längst ist es past bedtime für die Kleinen, die an diesem Abend aber selbstverständlich lange aufbleiben dürfen, um den Rock'n'Roll inhalieren zu können, nicht direkt vor der Bühne, versteht sich, denn dort ist inzwischen ein richtiges Moshpit, sondern im Buggy an der Promenade auf und ab fahrend. Ein Papa (45) mit den Söhnen (10 und 11) zückt seine Tickets, der Security-Mann checkt Handtaschen und Rucksäcke, eine nach der anderen, tausende - mit einer politeness, die eben very British ist. Matt Bellamy auf der Bühne wirkt nun gelöster, no more gritted teeth. Ein britischer Rockstar ohne Skandale, ein West Country Boy eben, der es geschafft hat. Das gilt es zu feiern, ob Fan hin oder her.
Wie heißt der Song eben, den Muse gerade spielen? Es ist ein neues Stück, das eine Art Hommage an Freddie Mercury und Queen ist, aber mit einer Discoeinlage drinnen: "United States Of Eurasia". Den Titel muss uns Matt Bellamy erst erklären. Ok, tut er nicht, macht nix. Go, let it out, boys! Just let it out! Erstens seid ihr on home turf, und das ist schließlich kein gewöhnliches Rockkonzert, sondern eben eine homecoming Feier der ganz besonderen Art. Da werden keine Luken, pardon Fenster, dicht gemacht, um Musik-Lärm zu entgehen, nein, da feiert mit wer kann. Ein Lilly Allen Lookalike hier, eine Ting-Tings-Sängerin-Doppelgängerin da, Fell-bemützte Menschen, Stroh-behütete Menschen, glamouröse Menschen, weniger glamouröse Menschen, Menschen in aberwitzigen Outfits – und damit sind nicht etwa 60plus Ladies & Gentlemen in eben erstandenen Muse-at-the-Seaside-T-Shirts gemeint.
Dass die Popmusik, der Rock'n'Roll, in Großbritannien einen ganz anderen Stellenwert einnimmt als etwa hierzulande, wird an diesem Abend wieder einmal klar. "I hate Muse", sagt ein Beth-Ditto-ähnliches Mädchen in die Runde ihrer Clique. Eine Konzert-Karte hat sie trotzdem. It's schließlich cooler to hate than to love, in einem gewissen Alter jedenfalls. That s ok. Ihre Freundin trägt ein Faith No More T-Shirt, sieht aus wie eine junge Courtney Love und lässt sich Glitter ins Haar sprühen – fairy dust, wie die Mädels dazu sagen. Der Vollmond stellt das nötige Licht bereit. Festival-Stimmung by the seafront.
Radio FM4/Eva Umbauer
Time Is Running Out
Time is running out singt Matt Bellamy, und die Möwe, die schon ganzen Abend ihren Standplatz bei der Pier bewachte, scheint im Takt mit dem Kopf zu wippen. Time is running out, time is running out…Wer bis jetzt noch im Haus verweilte: time is running out, fleht Matt Bellamy noch einmal mit dieser gewissen Muse-Dringlichkeit, und eben in diesem Moment kommt eine sehr sehr alte Dame im Rollstuhl des Weges, zusammen mit einem ebenfalls sehr sehr alten Herrn. Man macht bei einer Parkbank halt und lauscht. Ich will ein glückliches Lächeln auf ihren Gesichtern entdeckt haben. Um es mit Abba-Worten zu sagen: Thank you for the music, thank you for the songs they are singing, thanks for all the joy they are bringing. Matt Bellamy singt ein aller-allerletztes Mal time is running out, und wenn ich sage, dass dann noch ein dreibeiniger Hund des Weges kam und freundlich mit dem Schwanz wedelte, dann glaubt ihr wohl, ich fabuliere bloß…
Musik muss die Seele aufreißen, sagte einmal der Dirigenten-Gigant Nicolaus Harnoncourt, und das tat die Musik von Muse auch an diesem Abend. A night out by the seaside, ein in der Tat besonderes Konzert in Teignmouth, South Devon ist zu Ende gegangen, ein Abend über den die englische Presse am nächsten Tag dann schreibt:
"A full moon hung over the black sea and seagulls wheeled overhead, while green lasers flashed patterns through dry ice. Muse´s special effects may be as cheesily traditional as ice cream, but they are effective nonetheless. Muse are not in the least embarrassed about the virtues of the old-fashioned showmanship and musicianship. Muse dish out a glam, electro, nu-metal, prog-rock stew that marries Queen with Queens Of The Stone Age, then overlay it all with a 21st-century web-geek paranoia."
"The Resistance" von Muse erscheint bei Warner Music.