Erstellt am: 6. 9. 2009 - 14:33 Uhr
Mythos billiges Berlin
Rösinger
Vor allem deutsche und britische Kurzzeitbesucher schwärmen vom günstigen Leben in Berlin: Der Eintritt in die Clubs, die Getränke, der Kaffee, das Eis, die Minipizza - Alles so herrlich preiswert! Weit verbreitet ist auch die Mär von den niedrigen Mieten, von den großen Wohnungen, die man sich in keiner anderen deutschen Großstadt, geschweige denn europäischen Hauptstadt leisten könnte.
Schön und gut, aber wir Einheimischen wissen, dass wir nur so billig wohnen, weil wir seit fünfzehn Jahren nicht umgezogen sind und dass, wer heute versucht eine preiswerte Wohnung zu finden, sämtliche Innenstadtbezirke von der Landkarte streichen muss.
Rösinger
Das Berliner Preisniveau ist niedrig, aber lediglich der Kaufkraft angepasst, man verdient hier eben auch weniger als woanders, gute Jobs sind rar, Berlin ist Hartz-IV-Hauptstadt, nur 42 % der Berliner sind erwerbstätig.
Trotzdem ist was dran am Mythos billiges Berlin, es gibt eine spezielle Berliner Ökonomie, in der Statussymbole und ökonomisches Kapital durch soziales und kulturelles Kapital ersetzt werden. Das heißt: Man kommt irgendwie über die Runden und amüsiert sich prächtig. Und gerade in der Berliner Ausgehgesellschaft müssen prekäre Verhältnisse den sozialen Status nicht berühren.
Rösinger
Natürlich war in den goldenen Neunzigern alles noch besser und das Ausgehen noch billiger. Fast jeder betrieb zumindest einmal die Woche einen Club, eine als Galerie getarnte Bar oder sonst eine Kaschemme, reihum besuchte man sich an den jeweiligen Wochentagen, und jeder trank bei jedem umsonst.
So kam es, dass man fürs Trinken praktisch null Ausgaben hatte, als Barbetreiberin natürlich auch nichts verdiente, aber alles glich sich auf schönste Weise aus, alle waren überall und keiner musste bezahlen.
Auch heute noch erlaubt die schöne Institution „Gästeliste“ freie Teilhabe am musikalischen Leben. Das führt dann dazu, dass man als Berliner Band leicht mal 150 Leute auf der Gästeliste hat, was den Veranstalter verzweifeln lässt und die Gage schmälert, aber so ist das eben in der Berliner Ausgehgesellschaft - es herrscht ein seliges Geben und Nehmen.