Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Journal '09: 3.9."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

3. 9. 2009 - 18:06

Journal '09: 3.9.

Wer "Inglourious Basterds" gesehen hat, darf auch "The Kindly Ones" lesen. Denn: Hans Landa ist eigentlich Maximilian Aue; oder sein kleiner Bruder.

Etwa vor Jahresfrist hab ich mir, in einer Mischung aus Neugier, Pflichtbewusstsein und medial gesteuertem Interesse den 1400-Seiten-Wälzer "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell gekauft. Littell, ein in Frankreich augewachsener Amerikaner mit russischen Wurzeln, fuhr 2006 mit "Les Bienveillantes" einen unglaublichen Publikums- und Kritiker-Erfolg in Frankreich ein, ein weltweiter Siegeszug folgte.

Auf Deutsch erschien Die Wohlgesinnten Anfang 2008 und galt bald als wichtigstes Buch des Jahres. Und zwar nicht, weil es eine weitere Aufarbeitung der Nazi-Greuel und des Holocaust ist, sondern weil der Roman es wagt die Blickwinkel erstmals zu verschieben. Der Erzähler, Maximilian Aue, SS-Offizier, Schlächter und pedantischer Massenmörder, ist eine Figur von höchster Reflexionsfähigkeit und ausgesprochener Kultiviertheit.

Der Sommer der Wohlgesinnten

Max Aue, der durch Jonathan Littell spricht: "In unseren friedlichen Vororten wimmelt es von Pädophilen und Psychopathen, in unseren Nachtasylen von durchgeknallten Megalomanen; einige werden zum echten Problem, sie bringen zwei, drei, zehn oder gar fünfzig Menschen um - dann zertritt derselbe Staat, der sich ihrer im Krieg bedenkenlos bedient, wie blutsaugende Insekten. Doch diese Kranken zählen nicht. Die wirkliche Gefahr - vor allem in unsicheren Zeiten - sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr. Wenn ihr davon nicht überzeugt seid, braucht ihr nicht weiterzulesen. Ihr werdet nichts verstehen und euch nur ärgern, nutzlos für euch - wie für mich."

Littell durchbrach damit ein konservatives Dogma der Nazi-Darstellung: dass alle Mitglieder der völker- und massenmordenen Masterplans des Nazi-Terrors selbstverständlich gewissenlose Bestien und kulturlose Kriminelle waren, am besten auch noch mäßig intelligent.

Littell brach also das Tabu einer Auseinandersetzung mit der Psyche der Täter - was zu heftiger Resonanz führte. Typisch ein Spruch von Klaus Harpprecht im großen FAZ-Lesesaal zum Thema: "Seine Kunstfigur Dr. Max Aue - es fand sich in Wirklichkeit in der SS kein Intellektueller von solch krimineller Energie und kein Mörder von solcher Kultiviertheit (es konnte sie nicht geben)."
Weil es nicht geben kann, was es nicht geben darf.

In Wahrheit ist das diesselbe Diskussion, wie sie gern auf Stammtisch- oder Foren-Niveau geführt wird: dass nämlich Nazis nicht intelligent gewesen sein können, weil jemand Intelligenter nicht zu derart Bösem fähig wäre. Ein ganz primitiver, dummdreister Selbstschutz-Mechanismus der Marke Vogelstrauß, schwer auszurotten.

Dieses Trugbild kaputtzuschlagen, ohne eine Glorifizierung dagegenzusetzen, (Aue ist trotz seiner komplexen Zeichnung kein Verführer; es graust einem durchaus vor ihm) ist Littells großer Verdienst. Was die letztliche Anerkennung durch Claude Lanzmann, den wichtigsten Chronisten der Shoah, dann auch bestätigte.

Der Sommer der Basterds

Ich habe es im letzten Sommer dann nicht über Seite 80 hinaus geschafft und mich vor allem im ausführlichen Glossar verloren, das soviele Wissenslücken über die NS-Zeit aufdeckte, dass mir einerseits schlecht wurde und mich andererseits dann in diverse Sekundärliteratur lotste.

Im Juni hab ich das Buch dann wieder hervorgekramt.
Als nämlich, auch wegen der Cannes-Preise, viel vom neuen Tarantino und noch mehr von der Figur, die Christoph Waltz dort spielt, die Rede war, was mich stark an Littells Aue erinnerte. Ich hab mich dann in Allemand I und II reingearbeitet um wieder ein Gefühl für diesen Charakter zu bekommen, das Buch dann wieder beiseite gelegt und ein paar Wochen vergessen - und es dann ins Kino mitgenommen, um "Inglourious Basterds" zu sehen.

Nun ist Waltz' und Tarantinos Hans Landa natürlich eine Comic-Figur, mit irren Zuckern und Lachern, aber eben auch der wendigste Charakter in diesem Drama. Und es ist ein Drama klassischen Ausmaßes, dieser Film, der so präzise und geschliffen ist wie kaum ein Tarantino davor, ein wie in Bernstein gefasstes Portrait des Unsagbaren, des sublimen Terrors, der durch Rassenwahn zur grotesken Fratze verzerrten künstlichen Realität, mit der das so kurzlebige 1000jährige Reich den Rest der Welt zu überziehen trachtete.

Inglorious Basterds zeigt, warum das scheitern musste - und das schließt die brillante Figur des Hans Landa, der sich polyglott als Colonel vorstellt, damit die entsprechende, korrekte aber doch lachhafte Bezeichnung SS-Standartenführer vermieden werden kann, nicht nur mit ein. Er zeigt es exemplarisch vor.

Max Aue ist also Hans Landa

Genau da beginnt Hans Landa auch Max Aue zu werden. Ihm ist die Plumpheit dessen bewusst, was seinesgleichen da fabriziert. Trotzdem schwimmt er mit, obenauf.

Aue hat eine Geschichte, einen familiären Background, eine hochkomplexe Sexualität, er ist kein Deutscher, sondern Elsässer, sprachlich hochkompetent.
Landa ist auch kein Deutscher, sondern Österreicher, seine Vielsprachigkeit trägt den Film, seine Sexualität liegt im Dunkeln, wird nur angedeutet - man will's aber gar nicht wirklich wissen, sein familiärer Background, seine Geschichte bleiben ebenso ausgespart, aber wir vermuten zurecht komplexe Einflüsse und eine auf ihre Art bizarre Lebensgeschichte. Bizarrer in jedem Fall als die aller anderen Mitwirker, wiewohl die ebenso comichaft überzeichnet sind.

Max Aue ist also Hans Landa - oder zumindest sein großer Bruder.
Denn die Tatsache, dass Aue durch seinen Schöpfer Littell ab 2006 die gesamte "Darf das denn sein?"-Debatte bereits geführt hatte, erlaubt es der Tarantino-Gang da durch bereits einigermaßen diskursiv erobertes Territorium durchzugehen.

Das Entsetzen hielt sich nämlich in Grenzen. Nicht nur, weil "Inglourious Basterds" kaum splattert, nicht nur, weil kein einziges Film-Greuel mit der Realität der Nazi-Bestialität jemals mithalten könnte, sondern auch, weil die prinzipielle Bestürzung einen Nazi-Bösewicht mit durchaus komplexen Zügen zu versehen und in eine zentrale Rolle zu stecken, ihn zur deutlich schlauesten Figur eines Werks zu machen, ihn mit einer fast erstrebenswerten Portion Alltags-Irrsinn zu bestücken, eben schon anhand von Dr. Maximilian Aue durchdekliniert wurde.

Großer Bruder, kleiner Bruder

So wie der große Bruder die Maßstäbe beim "Wie lang darf ich fortbleiben?" eben auch für den kleinen setzt, der diese Früchte dann recht kampflos erbt.

Ohne die "Wohlgesinnten" wäre die Erregung jetzt viel größer.

Interessant ist im Übrigen, wie wenig diese mehr als deutlich auf der Hand liegenden Zusammenhänge hergestellt wurden. Gut, ich habe die französischen Publikationen nicht gecheckt, aber viel war da nicht.

Das hat wohl mit dem zunehmenden Fachidiotismus der sogenannten Fachredakteure zu tun. Klar, die Bereiche werden immer unüberschaubarer, aber ein Literatur-Kritiker, der nicht ins Kino geht oder ein Filmkritiker, der nicht liest - das ist unzumutbar.

In Österreich hab ich gerade einen Meinungsbeitrag (in der Presse am Sonntag gefunden. Wenig verwunderlich auch, dass sich der große Zusammendenker Diedrich Diederichsen der Gemeinsamkeiten annahm, warum allerdings hauptsächlich in Schweizer Medien weiß ich auch nicht. Und in diesem Beitrag stellt sich Claudia Schulmerich genau die große/kleine Bruder-Frage.

Und schließlich hab ich hier eine Diskussion über die "Wohlgesinnten" gefunden, in der das Taratineske des Buchs bereits Thema ist, als vom Basterds-Film gar nicht die Rede war.

Und die Abwesenheit der Kulturkritik

Vielleicht habe ich ja ein falsch gepoltes Bewusstsein.
Aber mein Verständnis von Medienarbeit gebietet mir den Rezipienten auf Dinge aufmerksam zu machen, die nicht offensichtlich auf dem Tisch liegen.
Mein Verständnis von Journalismus besteht in der Verknüpfung von auf den ersten Blick nicht zusammengedachten Dingen.

Wer mir Inhaltsangaben und Nacherzählungen liefert, brav PR-Waschzettel copypastet und sich in unhinterfragten Interviews genügt, befördert mich nicht, sondern hält mich auf und verkauft mich für blöd.

Es kann doch nicht sein, dass Diederichsen und vielleicht drei andere die einzigen sind, die ein zentrales Buch des Vorjahres und einen zentralen Film von heuer zusammendenken.
Wenn das nämlich (und nicht nur anhand dieses Beispiels) tatsächlich so ist (vielleicht hab ich ja auch ganz viele wundervolle Essays und Kritiken schlicht übersehen), würde das die offene Bankrotterklärung der klassischen Kulturkritik bedeuten.