Erstellt am: 3. 9. 2009 - 19:43 Uhr
This campfire's out of control
Vorgestern sitze ich in der Vorortebahn zwischen Waterloo und Kew, mache genau so wie jener Abschaum der Betriebsamen, den sämtliche Anti-Lifestyle-KolumnistInnen so gerne dissen (ich bin möglicherweise Teil dieses Abschaums), vom Gratisstromsteckerangebot für Laptop-Charger Gebrauch, da stolpere ich über Blumenaus Text über die Verödung der 20-29jährigen. Gerade frag ich mich, was ich davon halten soll, als der Zug auch schon in die Kew Bridge Station einfährt.
Kaum hab ich zugeklappt, bin ausgestiegen und in Richtung der Themsenbrücke gestolpert, da reißt mich die überlebensgroße fotografische Darstellung einer nordwesteuropäischen Straßenlebensidylle aus meinem mobilen Dämmerzustand:
Robert Rotifer
Das auf einen etwa zwei Meter hohen Verschlag aufgetragene Bild ist bereits etwas vergilbt und erinnert an die kühnen Träume des Immobilienbooms vor dem Crash im letzten Herbst. Solche und ähnliche Vorankündigungen eines vermeintlich kommenden Wohlstands, in dem die neue Middle Class pausenlos al fresco diniert, wurden damals überall aufgestellt, wo es Baulücken zu füllen gab.
Sei die Veränderung, die du sehen willst
Oberhalb des Traumbilds rankt sich bereits Gestrüpp, da ist also schon lange nichts gebaut worden. Und gleich darüber erspähe ich zwischen einer Peace-Fahne und dem Bild eines Pärchens, das auf einer sonnendurchfluteten Terrasse frühstückt, den handgeschriebenen Sinnspruch „Be the change you wish to see“.
Robert Rotifer
Gleich nebenan am Eck hängt ein Transparent: „Welcome to your Eco Village“.
Robert Rotifer
Von der Brücke aus kann ich mir etwas Überblick über dieses sogenannte Öko-Dorf jenseits der Barriere verschaffen. Mit seinen aus blauen Plastikplanen improvisierten Zeltdächern sieht die improvisierte Siedlung eher wie eine kleine Shantytown aus.
Robert Rotifer
Robert Rotifer
Ich sehe auch ein paar der Dorfbewohner durch das Gestrüpp zwischen den Zelten über den verwaisten Baugrund staksen.
Wieder muss ich an Blumenaus Geschichte von den kritiklosen, subkulturlosen, konfrontationsscheuen, unpolitischen, praktikumsversklavten Jungerwachsenen denken und mich fragen, ob sich diese Beschreibung mit dem, was ich sehe, versöhnen lässt.
Robert Rotifer
Zugegeben, natürlich ist all das zunächst einmal ein Echo von Vorgestern: Es hat einmal eine Zeit gegeben, so ca. vor einem Viertel bis halben Jahrhundert, da schien halb London, in manchen Gegenden (Brixton, Kilburn, King’s Cross...) fast ganz London ein besetztes Haus („a squat“) zu sein.
Die Rückkehr der Squatters
Ich war damals selbst kein squatter, sondern einer, der squats im Urlaub als Gratisabsteigen gebraucht hat. Großteils zerstört wurde dieses seit der Hippie-Ära bestehende Netzwerk dann später ab den Mittneunzigern, als der erwähnte Häuserpreiseboom jede leer stehende Bruchbude zu irgendjemandes Investitionsobjekt machte. Und jetzt, wo die anhaltende Wohnraumnot sich mit der Pleite der Baugrundversilberer trifft, kehrt das squatting ganz vehement zurück.
Eine antikapitalistische, ökologische Widerstandsbewegung macht das zwar noch lange nicht aus, aber die historischen Vorläufer dieser squatters waren das eigentlich auch nicht, selbst wenn sie sich gern so gerierten. Was das vermehrte Wiederauftauchen dieses Phänomens allerdings sehr wohl signalisiert, ist den steigenden Stellenwert der Option Verweigerung im Wettstreit der Lebenskonzepte – teilweise wohl zwangsläufig, schließlich hat der hiesige Arbeitsmarkt auch den Uni-AbgängerInnen (squatters waren vom sozialen Hintergrund ihrer Elternhäuser her immer schon middle class) selbst für konsequenten Opportunismus und Strebsamkeit keine Belohnung mehr anzubieten.
Robert Rotifer
Später, als ich mich – wieder in Waterloo – mit dem Rest des Menschenstroms unter den Rippen des großen viktorianischen Glasdachs in die dünndarmartige Zugangsröhre zur angeschlossenen Waterloo East Station treiben hab lassen, ist mir dann ein Haufen signalgelber Jacken ins Auge gestochen.
Es waren Polizisten und zwischen ihnen ein paar DemonstrantInnen, erkennbar als Abgesandte des in dieser Woche am Blackheath in Südlondon abgehaltenen Climate Camp gegen den Klimawandel.
Softly, softly - zur Abwechslung
Die Stimmung zwischen den jungen Hippies und der Exekutive war, nach einer knappen Woche verschiedenster Protestaktionen, gar nicht einmal schlecht, dabei hatten sich die AktivistInnen – wie ich aus der Abendzeitung erfuhr – in den Stunden davor mit Superkleber an die Fassade der Zentrale der Royal Bank of Scotland festgeklebt, um als Vertreter des Volks, dem diese Bank seit der Kreditkrise zu 70% gehört, gegen Investitionen in umweltfeindliche Projekte zu protestieren.
Die als „softly-softly“ charakterisierte Vorgangsweise der Polizei war ein direktes Ergebnis der schlechten Publicity nach der kontroversiellen Einkesselungs- und Prügeltaktik rund um den G-20-Gipfel im April, die zum Tod eines unbeteiligten Passanten führte, bzw. der Gewaltexzesse rund um die Verhaftung von 50 DemonstrantInnen beim letztjährigen Climate Camp am Gelände des kalorischen Kraftwerks Kingsnorth in Kent.
Diesmal sollte es keine garstigen Bilder geben, und sogar die bürgerliche Presse einigte sich darauf, das Image des heurigen Climate Camp unter Hervorhebung des soliden Backgrounds und der edelmütigen Absichten der ungewaschenen TeilnehmerInnen zurecht zu gentrifizieren (siehe diesen unfreiwillig satirischen Times-Artikel).
Der Glastonburysierung des Climate Camp scheint nun nichts mehr im Weg zu stehen.
Robert Rotifer
Sie hat es ja nicht leicht, diese Generation, dachte ich mir, während ich ihr am Bahnsteig gegenüber beim Warten auf den Zug zurück zum Blackheath zusah, im Wechselbad zwischen absurd übertriebener Überwachung und willkürlicher Repression durch missbrauchte Anti-Terrorgesetze im einen, und erstickendem Wohlwollen im anderen Jahr, je nach Laune der Staatsgewalt.
Die Generation der Verhohnepiepelten?
Um so mehr hat es mich dann gewundert, als ich bei Kollege Rafael Reisenhofer so Sätze las wie: “Keine Generation vor uns war so ungebunden von den Fußstapfen der Eltern, so frei, ihre kulturelle Entwicklung auch abseits lokaler Szenen voranzutreiben und mit einem solchen Potential bedacht, ihre Zukunft zu gestalten.”
Von außen her hatte ich ja eher den Eindruck, dass kaum eine Generation zuvor je so lückenlos überwacht, unter einen derartigen Ausbildungsstress gesetzt und vom Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt und Sozialsystem so systematisch verhohnepiepelt wurde.
Was wiederum ihre vorgebliche politische Sprachlosigkeit angeht, möge man nie vergessen, dass 2003 in London gegen den Irak-Krieg 100 bis 150 mal mehr Menschen demonstrierten als ’68 am Grosvenor Square gegen Vietnam.
Keine Generation vor dieser wurde in ihrem politischen Treiben so konsequent ignoriert. Und trotzdem scheinen große Teile von ihr sich dem ihnen zugeschriebenen Klischee des entsolidarisierten, konsumierenden Plappermauls nicht unterordnen zu wollen.
An diesem Nachmittag in London war das auch für Unbeteiligte wie mich nicht zu übersehen.
Es wird schon Herbst hier, der Wind und der Regen kommen. Ich seh’ schwarz für das Eco Village drüben in Kew. Einstweilen.