Erstellt am: 6. 9. 2009 - 14:58 Uhr
Die Königin unter den Tragödien
Es gibt ja Filme, von denen hört man immer wieder, von denen glaubt man, sie stünden im Zentrum irgendeines imaginären Filmsystems. Freilich, all die Antonionis, Hitchcocks und Minnellis dieser Welt haben die Kinosprache unzweifelhaft weiterentwickelt, haben jeder für sich genommen großartige Arbeiten abgeliefert. Aber unter diesem etablierten Kanon, der dann von zu vielen Experten zu oft bei zu vielen Podiumsdiskussionen herbei zitiert wird, da schlummern noch Preziosen, die nie Eingang gefunden haben in Kritikerhitlisten oder sonstige Kanons.
Vor wenigen Wochen sehe ich beim Filmfestival von Locarno, das eine Anime-Retrospektive veranstaltet, einen japanischen Animationsfilm aus den Siebziger Jahren, in den ich vor allem gehe, da ich mir vorgenommen habe, so viele Filme aus der Schau wie möglich anzusehen. Und dann sitze ich in Die Tragödie der Belladonna (Kanashimi no Belladonna), der „nur“ auf DVD vorgeführt wurde, aber immerhin, und habe tatsächlich eines dieser mit zunehmendem Alter immer seltener werdenden Erweckungserlebnisse: ein Gefühl, dass sich da grad was abspielt, was einzigartig, außergewöhnlich, meisterlich ist.
Rapid Eye Movies
Erst auf der Heimreise vom Festival erzählt mir ein Kollege, dass das deutsche DVD-Label Rapid Eye Movies „Die Tragödie der Belladonna“ bereits vor Monaten, nämlich im März, in einer feinen Edition veröffentlicht hat. Ich war wie von den Socken: wie kann es passieren, dass mir, wo ich doch eh so viele Blogs und Spezialistenseiten abonniert habe, so ein Release einfach durch die Lappen geht, dass ich das nicht mal mitbekomme? Ich war entsetzt. Eine Woche nach meiner Rückkehr aus Locarno halte ich dann die „Belladonna“-DVD in meinen Händen: Voller Glück verspreche ich mir selbst und setze es mir als Ziel, alles, was in meiner Macht als Filmkritiker steht, zu tun, um dieses Juwel bekannter zu machen. Also, aufgepasst.
Animerama
1973 steht es nicht gut um die Mushi Pro, das verdienstvolle Produktionsunternehmen, das der godfather of manga and anime Osamu Tezuka gegründet hat, vor allem um bei der Adaption seiner eigenen Manga in Fernsehserien und Kinofilme freie Hand zu haben. Die Mushi ist verantwortlich unter anderem für den Exportschlager Astro Boy und die auch hierzulande bekannte und beliebte Löwenbabyserie Kimba, the White Lion. Ende der Sechziger Jahre aber schließt sich Tezuka mit Eiichi Yamamoto zusammen und beschließt eine Animerama-Serie: Trickfilme, die sich an ein vorwiegend erwachsenes Publikum richten und die sich an populäre Historien und Mythen anhängen sollen. Die ersten beiden Filme aus diesem Zyklus, Arabian Nights, basierend auf Sheherezades Erzählungen und Cleopatra: Queen of Sex sind noch angelegt als Melange aus albernem Humor, Anspielungen und Querreferenzen und der einen oder anderen aufblitzenden Brust. Der letzte „Animerama“-Film war stimmungsmäßig vollkommen anders gewichtet.
Filmfestival Locarno
Osamu Tezuka war im Gegensatz zu den ersten beiden Filmen nur mehr im ganz frühen Konzeptstadium an Die Tragödie der Belladonna beteiligt. Eine von Yamamotos Inspirationsquellen für den Film war Jules Michelets Buch Satanism and Witchcraft, das 1862 in Frankreich veröffentlicht wurde und die Hexerei als populäre Möglichkeit zur Opposition gegen die Unterdrückung durch die Feudalherrscher und die römisch-katholische Kirche interpretiert hat. Yamamoto, der allein für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, transferiert diesen Gedanken auf das Story-Gerüst der Jeanne d’Arc .
Avantgarde
Rapid Eye Movies
„Die Tragödie der Belladonna“ ist kein Sex-Cartoon im Stil von Fritz the Cat, sondern ein experimenteller Animationsfilm mit einem Jazz-Fusion-Soundtrack des japanischen Avantgardekünstlers Masahiko Sato (inklusive einiger sehr einprägsamer Songs): Jeanne, eine wunderschöne Bauersfrau mit langen Wimpern und ihr weichlicher Ehemann Jean leben in einem kleinen Haus und versuchen, in der harten Welt aus Feudalherrschern, die alles haben und sich alles nehmen, und armem Volk, das nichts hat und alles geben muss, zu überleben. Eines Tages wird Jeanne von den Männern des Königs vergewaltigt. In der darauf folgenden Nacht erscheint ihr ein phallischer Dämon, der ihr Erlösung von all ihrem Leid verspricht, wenn sie ihn "in sich hinein" lässt. Jeanne erlebt in dieser Nacht eine sexuelle Erweckung, ein Erwachen ihrer Triebe. Nach einem weiteren Übergriff flüchtet sie in eine Höhle: Der Teufel, mit dem sie paktiert hat, ist mittlerweile zu stattlicher Größe herangewachsen, die Belladonna selbst hat ihr Lustleben unter ihre Kontrolle gebracht. Nie mehr wird sie sich nehmen lassen, ab nun behält sie die Oberhand und entdeckt die Wirkung der Essenz der Belladonna-Blume. Obwohl sie im Dorf als Hexe verschrien ist, pilgern die Menschen zu ihr und verlieren unter dem Einfluss der natürlichen Droge sämtliche Hemmungen.
Rapid Eye Movies
Animationschef Gisaburo Sugii setzt vor allem in der ersten Hälfte auf panoramatische Stillleben: die Kamera gleitet über die detailreichen Zeichnungen, deren Stil massiv beeinflusst ist von europäischen Künstlern wie Gustav Klimt und Aubrey Beardsley. Mit ein Grund für diese ästhetische Strategie war wohl auch der Sparkurs der Mushi Pro: Yamamoto aber macht aus der Not eine Tugend. Die starren Tableaux verwendet er vorwiegend für die unbewegliche Feudalgesellschaft, während ab dem Moment, an dem Jeanne die Kontrolle über ihre Sexualität wieder erlangt, der Bildschirm in einen Bewegungstanz übergeht. Zum frenetischen Jazz-Score blitzt, blinkt, leuchtet und scheint alles Mögliche, die Formen gehen ineinander über, den Innovationen scheinen überhaupt keine Grenzen mehr gesteckt zu sein.
Rapid Eye Movies
Rapid Eye Movies
„Die Tragödie der Belladonna“ ist nicht „nur“ ein Meisterwerk des japanischen Animationsfilms, sondern ein Zentralwerk der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts, das viele zeitgenössische Animationsfilmer maßgeblich geprägt und beeinflusst hat. Von einer heutigen Perspektive aus betrachtet, wirkt dieser Film beinahe wie ein Alien: Er erlaubt auch Einblick in die einmalige Produktionslandschaft der Siebziger Jahre, als es weltweit im Kino zu einer Massierung von Wahnsinnigkeiten und Unglaublichkeiten gekommen ist. Man muss sich nur Adriano Celentanos Avantgarde-Klamauk-Musical Yuppi Du (1977) oder die drei Langfilme von Giulio Questi ansehen, um zu wissen, dass sich damals, für ein paar Jahre, ein Fenster in eine andere, eine bessere Welt aufgetan hat. Wenn man durchblickt, dann sieht man „Die Tragödie der Belladonna“.
Rapid Eye Movies