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Arthur Einöder

POP: Partys, Obsessionen, Politik. Ich fürchte mich vor dem Weltuntergang, möchte aber zumindest daran beteiligt sein.

26. 8. 2009 - 16:55

Im so genannten Ghetto

Zu Besuch im Kremser Stadtteil Lerchenfeld

Ein Ghetto von Migranten und Arbeitslosen, wo Alkohol und Kriminalität schon bei Kindern auf der Tagesordnung stehen - so beschreiben österreichische Unterhaltungszeitungen den Kremser Stadtteil Lerchenfeld.

Ein 14jähriger Bursch ist vor drei Wochen in der Nacht von Polizisten in einem Supermarkt erschossen worden.

Yeah, endlich einmal eine Ghettoreportage, denk ich mir, als wir dorthin fahren, um die Freunde des erschossenen 14-Jährigen zu treffen. Aber von Ghetto keine Spur: Leer stehende Gebäude? Heruntergekommene Geschäftslokale mit kaputten Scheiben? Heulende Sirenen? - Fehlanzeige.

Stattdessen Schrebergärten, frisch renovierte Wohnbauten, recht viel grün rund um den Hauptplatz. Eine liebevoll gepflegte Schautafel des Kameradschaftsbunds begrüßt uns und eine Fahne der Kinderfreunde weht im Sommerwind.

Im sogenannten Radio:
Heute Nachmittag in FM4 Connected (15-19 Uhr): Lokalaugenschein in Krems

Aber der idyllische Streifen ist schmal. Der Hauptplatz ist von breiten Betongürteln umgeben. Überall sind Hinweisschilder mit Pfeilen aufgestellt. Ein Merkur-Markt in 60 Metern, ein Sportartikelgeschäft (gratis Kundenparkplatz!) in 180 Metern rechts, ein Diskontschuhgeschäft in 300 Metern links. Für mich sind viele Pfeile immer ein Indiz dafür, dass ich nirgends bin. Irgendwo gibts irgendwas (immer den Pfeilen nach), nur hier halt nicht.

Spielgerät am Spielplatz. Eine Ente zum Schaukeln.

radio fm4 / arthur einöder

Am Spielplatz in Krems-Lerchenfeld.

* wir haben sämtliche Namen der Jugendlichen geändert. Fotos (auch von den Mofas) gibts ebenfalls keine. Wegen der Anonymität warads.

"Hast du's nicht gewusst, wir sind LerchenBITCH, wir sind das Ghetto", erzählt Tamara* kopfschüttelnd. Sie und ihre Freundinnen und Freunde haben es sich am Spielplatz bequem gemacht. So wie eigentlich jeden Tag in den Ferien. Eigentlich sind sie ja schon zu alt für Sandkiste und Rutsche. Von überall anders sind sie aber vertrieben worden. Der Schulwart stampert sie von den Stiegen vorm Schulgebäude weg: Privatgrund. Auf der Wiese weiter hinten dürfen sie auch nicht sein. Zu laut seien sie, immer wieder bleiben Papierln von der Jause liegen und auch die Mopeds stören. Die Anrainer rufen deswegen die Polizei. Die kommt dann oft mehrmals am Tag vorbei.

Mit der Polizei stehen die Jugendlichen vom Spielplatz auf Kriegsfuß. "Wegen jedem Schaß nehmens uns mit", erklärt einer. "Und wie der Verrückte damals seinen Pitbull auf uns gehetzt hat, haben sie uns nicht einmal zugehört", fügt ein anderer hinzu - und deutet auf einen Baum, dem der Hund damals in Rage an die Rinde gegangen ist.

Die jungen Leute sind unerwünscht hier, das gibt man ihnen deutlich zu verstehen. Aber wohin sollen sie gehen? Wenn es schön ist, sind sie im Schwimmbad. Aus den Lokalen werden sie hinausgeworfen, wenn sie nichts konsumieren. Und im Einkaufszentrum darf man nicht rauchen.

Zwischen dreizehn und sechzehn sind die meisten hier. Die Mädchen haben schickes Schwedischertextildiskonter-Sommergewand an. Die Burschen mit dunklen T-Shirts, viele tragen Baseballmützen. Aus einem Handy kommt Musik: Im Hintergrund lassen zwei Burschen die Mopedmotoren aufheulen. Die Gruppe am Spielplatz ist gemischt. Einer hat schon mehrere Vorstrafen, eine andere wohnt im schönen Haus mit Swimming Pool. Einmal am Tag fahren sie hinaus auf den Friedhof, den Kumpel besuchen.

Seitdem ihr Freund von einer Polizistenkugel tödlich getroffen worden ist, ist einiges anders geworden. Die Leute rundherum sind den Jugendlichen gegenüber noch misstrauischer geworden. Immer wieder steht Polizei vor der Tür, die Auskünfte will. Plötzlich ist Lerchenfeld, die schlechte Gegend von Krems, in allen Medien Thema.

Park mit Schild "Schonet die Parkanlage".

radio fm4 / arthur einöder

Jugendzentrum?

Michael hat das als Chance begriffen und will jetzt ein Jugendzentrum für den Stadtteil durchbringen. "Uns ist halt oft fad", gesteht er, "Mistkübelkaputtmachen, Bänke kaputtmachen, so was passiert dann", sagt er. Ein eigener Platz zum Abhängen, vielleicht auch ein überdachter Raum für den Winter, das wärs doch, hat sich Michael gedacht, und eine Unterschriftenaktion gestartet.

800 Menschen haben schon für ein Jugendzentrum unterschrieben. Betreut werden soll es von den Streetworkerinnen und Streetworkern der Stadt, die jetzt schon mit ihrem mobilen Projekt immer wieder am Spielplatz vorbei schauen. "Die haben so Punks-Frisuren und sind manchmal komisch angezogen", meint Marcel, "aber die sind sehr cool und helfen einem bei Problemen. Die schreiben einem auch nicht vor, was man tun soll."

Interview an einem Tisch.

radio fm4 / arthur einöder

"Jugendliche gehören nicht auf den Spielplatz. Für Kinder gibt es zehn Spielplätze, aber für Jugendliche nur ein Jugendzentrum", erklärt Manuela Leoni im FM4-Interview mit Sarah Seekircher.

Manuela Leoni ist die Chef-Jugendstreetworkerin der Stadt Krems. Sie hat weder eine Punk-Frisur, noch ist sie komisch angezogen, als sie uns im innerstädtischen Jugendzentrum Am Pulverturm empfängt. Wuzzler, selbst gestaltete Plakate und Graffiti an der Eingangsfront: Das Jugendzentrum in Krems ist eine sehr liebevoll ausgeführte Ausgabe des klassischen Juze-Standards.

Die erste Idee zu einem Jugendzentrum in Lerchenfeld gab es schon vor 40 Jahren, erklärt sie uns. Doch der Widerstand der Anrainer war stets enorm. Sie befürchten, dass dort, wo viele junge Leute auf einem Platz zusammen sind, noch viel mehr Radau entsteht. Auch der Stadt war das Thema bislang nicht wichtig genug. Immer wieder waren bürokratische Auflagen "schuld", dass dann doch keins gebaut wurde. Denkmalschutz, schlechte Lage für mögliche Lärmentwicklung, et cetera. Einkaufszentren haben sich in dieser Zeit beinahe wie von selbst gebaut.

Die Verantwortlichen der Stadt waren für ein Interview gestern zu beschäftigt. Aber man hört aus Gemeinderatskreisen, die Chancen stünden gut auf eine Lösung im Sinne der Jugendlichen, was auch immer das heißen mag. Auch die Lokalmedien machen Druck: Von Niederösterreich Heute abwärts interessiert man sich für das Jugendzentrumsprojekt im so genannten Ghetto.

Zeichnung an einer Hausmauer.

radio fm4 / arthur einöder

Nicht das Sgraffito-Haus, sondern das Graffiti-Haus: das Jugendzentrum in der Kremser Innenstadt.

"Man kann hinter jeden auffälligen Klienten, sei es ein Jugendlicher oder ein Erwachsener, einen Sozialarbeiter stellen, und man wird Verbrechen nicht verhindern können", gibt Michaela Leoni zu bedenken. Das Zentrum soll den Jugendlichen vom Spielplatz eine Anlaufstelle sein. So nach dem Motto: Wer was zu tun hat, dem ist nicht fad, und der kommt weniger leicht auf blöde Gedanken.

Einstweilen sammeln sie weiter Unterschriften und versuchen, mit dem überraschenden Tod ihres Freundes fertig zu werden. Schwarzer Humor hilft dabei durchaus. Besonders super find' ich die Drohung als Running Gag: "Ich schieß dir in den Rücken!"